Mit den Augen nach Osten


Veröffentlicht in „Kaffeehaus-Skizzen, 1998“ 

Zum Mittagessen gab´s Schwenkbraten auf Kosten des Hauses. Vorher hatte es schwere Arbeit gegeben, wir hatten ein Zeltdach über dem eigentlichen Hauptgrab, dem Grabhügel, aufgebaut – das Dach des Zeltes bestand zum Teil aus Plastikplanen und Leinen, die zu einem Rotkreuzzelt gehört hatten, in dem einmal Pferde – nein, nicht ärztlich versorgt, sondern nur untergebracht worden waren. Es roch wie im Landgestüt in Zweibrücken, wenn zwei Jahre nicht ausgemistet wurde. Seit zehn Tagen regnete es fast ununterbrochen – selbst die Schubkarren mussten mit zwei Mann vorangebracht werden wegen des Schlammes und der aufgeweichten Walderde. Einer zog den Karren, der andere hielt die Balance auf den Bohlen, die wir bis zur festen Strasse gelegt hatten. Es gab sonst kein Vorwärtskommen, wir mussten wegen der großen Menge Erde, die wir bewegten, die Halde in großer Entfernung von der Grabung anlegen, allein aus Platzgründen. Die ersten Tage waren nur mit Abräumen der oberen Erdschichten ausgefüllt, bevor die eigentliche Filigranarbeit, bei der jedes Archäologenherz höher schlägt, beginnen konnte.

Nun hatten wir erst einmal Pause, vor dem Regen und vor der Dreckarbeit. Aber der Regen wurde stärker, die Temperatur fiel von Tag zu Tag, acht Grad waren es um die Mittagszeit unter der Zeltplane. Aber die Kälte schuf eine gemütliche Stimmung, weil es im Zelt schön dunkel war. Ausserdem sah man nicht so genau, welches Fleisch man da wirklich aß. Der Grabungsleiter Walter Reinhard gab den Leuten, die am schwersten arbeiteten, zwei Schwenkbraten aus auf Kosten des Archäologischen Vereins, den er vor wenigen Wochen gegründet hatte. Das gemeinsame Essen in unserer duftenden Kantine stimmte ein bisschen versöhnlich angesichts der Dreckarbeit. Die schlechte Witterung machte uns zu schaffen, auch ging sie dem einen oder anderen aufs Gemüt. Wie gut, dass es einige Zeitgenossen gab, denen die frohe Laune nie verloren ging, an einen erinnere ich mich besonders gut, ein älterer Mann um die Sechzig. Er stammte aus Rubenheim, war schon bei zahlreichen Grabungen im Rubenheimer Wald, zu dem diese Stelle gehörte, dabei, auch auf seinem Grundstück im Ort wurde bereits etwas aus römischer Zeit gefunden. Mit seinen witzigen Erzählungen aus seiner Jugend unterhielt er uns gerne. Unser Grabungsleiter hatte ein Auge darauf, diese, wie er sich ausdrückte, Erzählstunden nicht ausufern zu lassen – manchmal sogar fiel ein scharfes Wort, dass wir wieder an die Arbeit gehen sollten. Einer sagte zu ihm, er bekäme von ihm zu seinem nächsten Geburtstages eine lange Peitsche geschenkt, da er solch großes Talent als Sklaventreiber entwickele. Ausserdem seien wir zwar Sklaven, aber keine Kriegsgefangenen.

Das musste gesessen haben, es passierte am Vortag, wahrscheinlich begründete dies seine großzügige Spende. Von nun an trieb er uns mit den Worten: “Auf auf Ihr Männer von Galiläa” zu Arbeit an, wenn wir die Mittagspause einige Minuten überziehen wollten – bis einer auf die Idee kam, wir sollten so lange sitzen bleiben, bis er diesen Satz sagen würde, erst dann sollten wir mit unserer Arbeit fortfahren. Es klappte von dieser Sparte aus gesehen recht gut. Erst nach einigen Tagen roch er den Braten.

Die Ruhepausen, improvisiert meist aus dem einen Impuls heraus, sich eine Zigarette anzuzünden und zu verschnaufen, waren wichtig, es wurden Witze gemacht und der neueste Klatsch erzählt, ehe es wieder von neuem in den Matsch ging.

Da war eine Kollegin, Barbara, an die ich mich gerne erinnere, sie arbeitete ein paar Tage mit mir an einer Stelle, die etwas Eigenartiges zu finden versprach. Sie hatte Holzkohlenreste in der Nähe des Fußendes vom Hauptgrabhübel entdeckt. Dies hätte auf ein weiteres Grab oder ein Brandgrab mit mehreren Bestattungen hindeuten können, wären da nicht unmittelbar unter der Holzkohle zerbröselnde Kalksteinfragmente aufgetaucht, natürlich gewachsen, nicht von Menschenhand benutzt. Es war ein enttäuschender Fund, bewies er doch, dass hier kein Grab zu finden war. Wir Beide rätselten tagelang herum, ob es sich nicht um das Grab von Idefix handelte, dem Lieblingshund von Obelix, dem Gallier. Klein genug war es ja, die Größe hätte gepaßt. Ich machte ein paar Fotos von den einzelnen Stadien der Ausgrabung, immer in der Furcht, von dem Grabungsleiter zurechtgewiesen zu werden, da wir nichts als Unfug anrichteten. Die Fotos wollte ich später in einer Satire über Archäologen verwenden. Meine Kollegin und ich amüsierten sich über dem vermeintlichen Grab über unsere Bosse. Aber es gab keinen Protest und keine Zurechtweisung. Erst viel später sagte mir ein Bekannter, Barbara und der Grabungsleiter hätten etwas miteinander. Da war also der Hund begraben!

Sie hatten in der Tat etwas miteinander. Im darauffolgenden Sommer des Jahres 1985 sollte ich ein ganz anderes Erlebnis haben, auf dem Blieskasteler Altstadtfest – ich stand betrunken aber glücklich in der Menge und hörte Sandy Davis zu, einem Saarbrücker Sänger, der Oldies zum besten gab, als jemand meine Hand grapschte und sie festhielt. Es war Barbara, die nette Kollegin, sie lachte mich auf ihre immer fröhliche Art an und fragte, ob ich nicht Lust verspürte, mit zu den anderen Teilnehmern der Ausgrabungszeit vom Vorjahr zu kommen, die alle in der Nähe der Bühne stünden und einen draufmachten. Also schloss ich mich ihr an, sie hielt noch immer meine Hand. Kaum hatte ich ein paar freundliche Worte mit den Leuten der Grabungen gewechselt, wurde ich von einem Bärtigen angerempelt, der mich anbrüllte, ich solle seine Frau loslassen, ich hätte sie betatscht. Jemand hinderte ihn daran, mir eine reinzuhauen. Ich hätte mich nicht gewehrt, ich war betrunken, glückselig, berauscht von der schönen Musik und dem Elsässer Riesling. Jemand sagte zu dem Mann: “Du hast den Falschen erwischt, an Deiner Stelle würde ich mich auf andere Personen konzentrieren, die die Hände von der Frau nicht lassen können. Bist Du so blind?”
Nachdem das so genannte Idefix-Grab sich als historisch nicht haltbar erwiesen hatte, stand ich allein auf weiter Flur, ohne einen Arbeitspartner. Hier und da half ich noch aus, meistens führte ich einen einsamen Kampf mit der Schubkarre im Matsch, der allmählich wieder festere Formen annahm, es regnete nicht mehr so stetig. Manchmal ließ ich sie stehen und liegen, wo sie stand und ging abseits in den Wald, für eine Stunde oder mehr, dem Leiter sagte ich, er solle es mir vom Lohn abziehen, der sowieso gering war. Dann lief ich hinüber zu den anderen Keltengräbern, etwa fünfhundert Meter von unserer Grabung entfernt, die wir zwei Jahre zuvor aufgegraben hatten, ich schaute sie mir an, wie ich es immer tue, wenn irgendein Ort schöne Erinnerungen birgt, nachsehen wollte ich, ob noch etwas hängengeblieben war, dort, wo ich einmal längere Zeit sehr intensiv gelebt und gearbeitet hatte, mich dabei wohlfühlte – hinterher war es immer enttäuschend, auch dieses Mal. Nachdem ich mich Standesehen hatte, kehrte ich wieder an meine Arbeit zurück – Schubkarren fahren.

Um meine angeknackste Stimmung wieder aufzumöbeln, sagte der Grabungsleiter vor versammelter Mannschaft, ich hätte mit ihm das Frauengrab entdeckt, was nicht stimmte. Er hatte es zusammen mit dieser Barbara entdeckt, ich stand zufällig daneben, die Hand in der Tasche meiner abgewetzten blauen Jeansjacke, rauchte eine Zigarette, wieder einmal über den nicht enden wollenden Regen fluchend. Die Entdeckung dieser Grabstätte war der erste Lichtblick in unserer Arbeit, es barg die Überreste eines Frauenskeletts mit je zwei bronzenen Oberarm- und Unterschenkelreifen, die sehr einfach und elegant gearbeitet waren, dicke Ringe aus Bronze, ohne Verzierungen. Unser Grabungsleiter säuberte persönlich die Steine und befreite sie von Schmutz und Erde, um die Stelle später genauestens fotografieren zu können. Das tat er dann auch gleich selbst. Ich beobachtete ihn bei dieser Arbeit und griff zu meinem Fotoapparat, einer handlichen Rollei, hielt die Szenerie fest, wie er das Grab sorgfältig und aus vielen Blickwinkeln fotografierte. Dies war einer der nicht gerade seltenen Momente, bei denen man merkt, dass man ein blutiger Laie ist, man ist von dieser ernsten Angelegenheit, diesem selbsterzogenen Akt des strengen wissenschaftlichen Arbeitens vor Ort ausgeschlossen – hier fragte keiner der Archäologie Kundigen, ob man mithelfen wolle, niemand gab einem Anweisungen, wäre ich gegangen, niemand hätte es wahrgenommen. Aber es war die Neugier, die mich bleiben hieß.

Schade, dass man nicht gleich an Ort und Stelle das Alter der Frau feststellen konnte. Das tat ein Institut in Mainz, das die Knochen untersuchte. Ich stellte mir natürlich eine junge Frau vor, vielleicht war sie so hübsch und katzenäugig und schwarzhaarig wie die junge Freundin Sabine von Tiss, meinem alten Freund. Welche Tracht trug sie, welches war ihre Haarfarbe?, dies meine ich mit Neugier. Natürlich interessierte mich darüber hinaus der Stil und die Epoche, während der dieser Grabhügel entstand – Siebenhundert Jahre vor Christus, beginnende La-Tene-Zeit, diese Begriffe und Schlagworte waren mir zu nüchtern. Aber das ist die trockene Wissenschaft mit ihren trockenen Interessen, meine dagegen sind laienhaft, wie gesagt, über solch modischen Dinge wie Haartracht zerbrach ich mir eher den Kopf. Das brachte mir in der Vergangenheit ein ums andere Spott ein. Bei dieser Ausgrabung hielt ich mich mit meinen Gedanken etwas zurück. Vierzehn Tage vor Beginn dieses Ausgrabungsabschnittes, im August, half ich dem Grabungsleiter im Böckweiler Wald, der in einem Mardell Ausgrabungen machte. Der ältere Mann, den ich bereits erwähnt habe, nahm auch daran teil. Damals erfuhr ich, was ein vorzeitliches und mittelalterliches Mardell ist, nämlich eine Lehmgrube, die Bewohner eines Dorfes benutzten, um Lehm und Ton für ihre Ziegel und Gefäße zu erhalten. Vieles mehr erfuhr ich noch, zum Beispiel, dass es übernatürlich große, versteinerte Hoden eines urzeitlichen Krebses gibt. Dies erzählte uns der ältere Mann.

W. behandelte mich in diesen Tagen weitgehend freundschaftlich – er erzählte mir viel über Kelten, Germanen, Römer, und die Funde aus diesen Epochen im Saarland. Er berichtete über Ausgrabungsmethoden aus den Zwanziger Jahren, die heute sehr vorsintflutlich anmuten. Ich hörte ihm genau zu, hütete mich aber, naive Kommentare abzugeben.

Seit der Gründung des archäologischen Vereins hatten sich einige Leute, die nun Mitglied waren, in erschreckendem Masse verändert. Ständig bemerkte ich Anzeichen dieser Veränderung, und sie gefielen mir gar nicht. Ich machte trotzdem weiter, mein Interesse am Ausgraben war zu groß. Einige der jungen Männer wollten sich vor den Profis hervortun, sie wollten glänzen. Ehrgeizig wie sie waren, entwickelten sie seltsame Führungsqualitäten, das hieß, andere Leute wie mich zum Beispiel, herumzukommandieren und Arbeiten zu vergeben, die sie selbst nicht machen wollten. Gerne tat ich ihnen den Gefallen, aber nur, um sie hinterher zu verspotten. Den einen, der mir bereits zu Beginn der Arbeiten suspekt geworden war, weil er sich mir gegenüber überheblich benahm, nannte ich zu seiner großen Überraschung “Tunichgud, mein treuer Mietsklave” – Tunichgud ist eine Comicfigur von Uderzo und Tabari in ihrem berühmten Comic Isnogud und in der Tat der Mietsklave dieses Grosswesirs, der Kalif anstelle des Kalifen werden will. Saukomisch, das Ganze – Tiss, den ich zu Anfang als einen Freund bezeichnete, hatte sich ebenfalls sehr verändert, seit er in München studierte und mit seiner jungen Freundin zusammenlebte. Mit ihr unterhielt ich mich manchmal recht gut, vor allem über Gottfried Benn und seine Gedichte. Werden nun manche Leser fürchten, dass dieser Dichter von den Archäologen nicht verschont bleiben wird, ich kann sie beruhigen, er liegt noch in seinem Dichtergrab, für Archäologen ist er noch sehr uninteressant.

Das schlechte Wetter wollte nicht enden in den sechs Ausgrabungswochen. Unser Leiter griff weiterhin zu seinen bewährten psychologischen Mittelchen, uns bei Laune zu halten. Das hieß, abends stieg im Bauwagen des Vereins eine große Party – die Frau eines Vereinsmitglieds kochte für uns Knödel und Sauerkraut. Bei keinem dieser kleinen Feste war ich dabei. Täglich fuhr ich meinen Schubkarren voll Erde auf die Abraumhalde, beseitigte mit anderen Helfern Bäume von den Gräbern, grub deren Wurzeln aus, half bei der Reparatur des Zeltdachs, machte kleine Besorgungen in der Stadt für den Verein. Ich wurde mehr und mehr schweigsam und zog mich zurück, Barbara bemerkte auch dieses. Sie versuchte mich aufzumuntern. Mit ihr verstand ich mich gut. Auch die anderen sind mir gut und wohlwollend im Gedächtnis geblieben, O. mit den Steinhodenkrebsen und den Greuelgeschichten aus dem Zweiten Weltkrieg, A., der pensionierte REFA-Mensch, der in seiner Freizeit Scherben zusammensetzte und es im Restaurieren antiker Gegenstände zu wahrer Meisterschaft gebracht hatte, der mit uns über Pornofilme diskutierte und wie sehr er diese verabscheue, die FKK-Kultur verdammte und den jungen Frauen auf den Po und den Busen schielte, M., mein Mietsklave, der nicht bemerkt hatte, dass er von mir auf die Schippe genommen wurde, T., der sich beim Grabungsleiter Liebkind machte und S., die einfach nur jung war und alle Männer becircen wollte. Die Grabung wurde abgeschlossen mit einem großen turbulenten Fest. Ich hatte mich nicht überwinden können, daran teilzunehmen.

Gassen-Lauf


veröffentlicht in „Kaffeehaus-Skizzen, 1998“

Ein Müßiggänger inmitten der Stadt bewegt sich auf dünnen Brettern, beziehungsweise auf dünnem Asphalt, ihm kann es jederzeit widerfahren, dass er jemanden auf der Strasse trifft, einen Ungebetenen, der ihm zufällig über den Weg läuft und leichtfertig über die Schulter guckt, ihm überflüssige Fragen stellt oder zu einem ebenso unangebrachten Bier animieren will. Mit einem Gang in die nächstbeste Kneipe, es gibt in Blieskastel etwa vierzehn davon, wäre das Maß an verbummelter Zeit voll, und in Kneipen trifft man selbst zu früher Stunde die seltsamsten städtischen Sumpfpflanzen. Ich will mich nicht ausschließen, aber ich möchte eine Weile alleine sein, gehen und schauen was sich an Veränderungen in den letzten Wochen und Monaten abzeichnete, veränderte, was von unter Zeitdruck Stehenden für gewöhnlich übersehen wird. Über Zeit verfüge ich genügend, ich fange vieles an, was anderen versagt bleibt:: ich sammele Bilder, die sich nur demjenigen einprägen, der genauestens nach ihnen Ausschau hält, sammele Gesichter von Fremden wie Fotografien, die anziehend genug sind, sie lange im Gedächtnis zu behalten. Es gibt genügend zu sehen, zu hören und zu riechen in einer Stadt, in der für gewöhnlich nicht viel läuft. In einer gleichförmigen Umgebung gibt es durchaus noch Unruhe und Bewegung zu entdecken. Nehme ich als erstes den Markt, zweimal in der Woche findet er statt. Hier sind Gerüche zu ergründen, neue Gesichter zu sehen und zu entdecken, Laute zu hören, die selten an anderen Tagen zu vernehmen sind – ein Wochenmarkt ist der kulturelle Mittelpunkt der kleineren Städte – wie zu allen Epochen bunt, laut, grell, vielstimmig, leger, brodelnd, spießig, bourgeois – lebendig. Leider bleibe ich nie länger als ein paar gehetzte Minuten stehen und biete meine geistigen Kräfte auf, die Szenerien auf einen Schlag aufzunehmen. Das Treiben auf dem Marktplatz, der einmal ein Exerzierplatz war, versetzt mich dennoch in Unruhe, ich werde zu leicht nervös. An anderen Tagen, wo die Stille und Schläfrigkeit vorherrschen in den wenigen engen Gassen, suche ich diese quirlige Lebendigkeit allerdings vergeblich. Dann sehen verloren wirkende Ecken und Winkel in den Gassen noch verlorener aus, abgelegenere Gassen und Gäßchen sind noch mehr verhärmt, und ein Mensch, der durch diese Gassen und Sträußchen streift, ohne zielstrebig seines Weges zu gehen, sich nur von Pflastern, Seitenwegen, halb zerfallenen Stufen leiten und verlocken lässt, wirkt dadurch wie ein Heimkehrer aus der Fremde, der sich nicht mehr auskennt, weil sich zuviel veränderte. Hier in den ältesten Strassen des Blieskasteler >>Hinnerecks<< fühle ich mich auf meinen seltenen Besuchsgängen recht unbehaglich. Ich beeile mich, weiter bergauf zu kommen, um über die Ziegeldächer des alten Blieskastels schauen zu können. Von hier oben ist das südliche Bliestal mit der Mimbacher Kirche in der Ferne weit zu überblicken. Die Stadt ist entrückt aus der unmittelbaren Realität und liegt einige Meter unter mir, obschon ich mich mitten im Kern befinde – nur ein wenig abseits liegt die Stelle, die es mir angetan hat, eine verwitternde Holzbank steht da, überschattende Zweige alter Bäume und Gebüsch ringsum, und die Aussicht ist gut. Auf dem Schlossberg gegenüber mir sieht man deutlich und nahe die Orangerie des längst verschwundenen Schlosses der Blieskasteler Grafen. Gegenwärtig wird sie renoviert, ein kleiner Park oder Schlossgarten wird angelegt, er wird eine Idylle vortäuschen, die es nicht gibt. Das Gelände der Orangerie gehört dem Saarland.

Nun bin ich wieder hinuntergestiegen in die verkehrsbedrängten Strassen, bin den mit Kopfsteinen gepflasterten Schlossbergweg, die Schlossbergstrasse, herabgekommen – um diese Tageszeit branden erste Wellen des hektischen Feierabendverkehrs hier durch – gegen siebzehn Uhr wird er dichter und dichter, eine endlose Autoschlange kriecht über die Bliesbrücke. Ein Spuk, der allerdings schnell verfliegt, keine zwei Stunden später ist die Innenstadt wieder wie ausgestorben. Gespenstisch sind dann die leeren Strassen. Aber so lange halte ich es nie hier aus. Dann fürchte ich, durch die Hektik, meine aufgesammelten Beobachtungen nicht ausreifen zu können, sie in aller Ruhe für meine kreativen Zwecke zu nutzen.

Soweit ist es jedoch nicht, und wann diese Eindrücke in meinem Kopf wieder in Erscheinen treten werden, kann ich nicht voraussehen. Konnte mein Gang nun ohne Zwischenfälle, wie sie zu Beginn beschrieben wurden, beendet werden, und bleibt genug Zeit, mich irgendwo auszuruhen, einen Kaffee zu trinken, dann wird dieser mit Beobachtungen angefüllte Tag keinesfalls wertlos für mich sein. Es gibt genügend andere Tage, an denen mir deren Nutzlosigkeit nur allzu bewusst wird. Was kann ich aber demjenigen sagen, das ich so lange in dem allgemein als langweilig angesehenen Ort getrieben habe. Ich weiß es nicht. Er wird Müßiggang mit Faulenzen und beabsichtigtem Nichtstun gleichsetzen – und wenn ich ihm sagte, etwas Bestimmtes und für mich ungemein Wertvolles gesammelt zu haben, über das ich ihm augenblicklich keine näheren Auskünfte geben könne, dann wird er verständnislos den Kopf schütteln und mich derjenigen Sorte Idioten zurechnen, die mit ihrer Freizeit nichts anzufangen wissen, und über ihren Trödeleien allmählich den Verstand verlieren. Aber ich trödele keineswegs.

Anders wird es im entgegengesetzten Fall sein – angenommen, mir passiert es, und ich treffe einen derartig unangenehmen Zeitgenossen – er braucht keinesfalls unangenehm oder unwillkommen zu sein – er stört mich auch wenig bei meinem Sinnieren, wenn er mir dafür noch die Zeit lässt. Er wird mich ganz schnell umstimmen und sehr ablenken, ich werde schwach und gehe mit ihm auf ein Bier, eine Plauderei, einen Aufenthalt, auf eine vertrödelte Zeit miteinander. Zum Glück spaziere ich gerne bei Regen durch die Gasse, Regen hält manche Leute ab, mehr als zwei Minuten auf die Strasse zu gehen – mich kümmert´s nicht, und wenn ich nass werden sollte, dann ignoriere ich dies, außer im Winter. Bei Dauerregen habe ich mich eigenartigerweise niemals unwohl gefühlt. Es tut mit gut, wenn ich nasse Haare abbekomme und die Schuhe durchgeweicht sind. Heute aber werde ich von Regen und ungebetenen Störenfrieden verschont. Und ausgerechnet jetzt beginne ich mich nach einem derartigen Aufeinandertreffen zu sehnen, irgendjemand aus meinem Bekanntenkreis könnte mich eigentlich doch unverhofft ansprechen. Aber der Moment bleibt aus. Heute gehe ich alleine meines Weges, wie ich es heute auch vorhatte. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, ich habe noch genügend Zeit, unbesorgt irgendwo einzukehren, so mache ich mich auf, in das Lokal >>Zum Hinnereck<< zu gehen, das ich selten aufsuche, eigentlich nur, um Sonntagabends ein Wochenende entsprechend schonend ausklingen zu lassen. Dort ist es relativ ruhig, das obere Geschoß ist wie geschaffen zum Verweilen, meist dient es mir zum Ausruhen vom Tag und von Gedanken, die mich über die Zeiten hinaus verfolgen. Lange bleibe ich nicht, trinke übereilt aus und gehe wieder weg. Ein anderes Mal werde ich bestimmt wiederkommen, aber nachmittags sind die Lokale unerträglich – es mag an bestimmten Menschen liegen, die auf ähnliche oder noch tristere Weise ihre Zeit da drin verbringen. Zumindest abends sieht man ihre gezeichneten Visagen schlechter, am Tag sind sie umso deutlicher sichtbar, und ihre offengelegte Langeweile zwingt sie zu noch sinnloserem Fabulieren, Prahlen und Lügen. Mich sollen sie heute ungestört lassen, mir steht der Sinn nach etwas anderem, nach freiwilliger Einsamkeit, diese ist mir teuer und unentbehrlich geworden. Eine gewollte Ziellosigkeit ist keine mehr, ich gehe mit dem Ziel, nirgendwohin zu wollen durch diese Strassen und Gassen – auch diesmal, es ist mittlerweile siebzehn Uhr, daheim wird wenig Aufregendes auf mich warten, und auch mein klappriger gelber VW ist wenig verlockend.

In den engen Strassen pulsiert es, das aufregende Leben der arbeitenden Bevölkerung, morgens zur Arbeit und abends wieder zurück, morgens zur Arbeit und abends —- der Feierabendverkehr bewegt sich im rasenden Tempo schrittweise voran, die Luft ist übersättigt mit stinkenden Abgasen, aber in der nächsten Stunde wird es so ruhig sein, als sei diese kleine, aber heftig ablaufende Stunde nie passiert. Ich gehe runter in die Alte Marktstrasse und bleibe vor den Auslagen des Musikgeschäfts stehen, sie haben neue akustische Gitarren ausgestellt, bewundernd lasse ich meine Blicke über die Korpusse und schlanken Hälse der Country-Gitarren wandern, die mein Ideal an Gitarren darstellen. Nun treffe ich doch noch auf jemanden, der mir im Moment recht willkommen ist, ein junger Mann, Student wie ich, wir beschließen spontan, einen Gang hinauf zum Kloster zu machen. Dort sei er schon lange nicht mehr gewesen, er wolle auch mit mir dorthin spazieren und mit mir plaudern, aber nicht lange, gestern habe er zuviel getrunken und wolle nur seinen schmerzenden Kopf auskühlen und anschließend etwas trinken gehen. Womit der Kreislauf wieder geschlossen wäre. O, tut mir leid, sage ich und erzähle mit wenigen Worten und Sätzen, was ich nachmittags getrieben habe, er meint, da könnten wir genauso gut auf der Stelle ein Bier trinken gehen. Sein Kopfschmerz sei ihm mittlerweile eh gleichgültig, Schmerz hin, Schmerz her, nun müsse er bald ein kühles Bier trinken gehen. Ich wiederhole noch einmal, dass ich gerade vom Hinnereck käme – er meint daraufhin pikiert, er gehe dann mal alleine. Ich starre ihm nach und lasse ihn gehen, meine stille Freude, einen wirklich ruhigen Nachmittag hier in der Stadt verbracht zu haben, wäre zum Teufel. Ich schlage die entgegengesetzte Richtung ein und tue damit das Gegenteil, was andere von mir erwarten. Ich weiß zu genau, wie der Abend mit meinem Bekannten geendet hätte, mir schaudert es bei dem Gedanken, ihn zum x-ten Mal stockbesoffen heimzufahren, vor seinem Haus zu warten, bis er die Tür findet und nicht vorher in die Vorgartenbeete und Rosen zu fallen.

Mein Bekannter ist auch ein Student – und ein Müßiggänger ganz anderen Kalibers, ob besser oder schlechter als meine Art, das ist einerlei. Sein leben neben dem Studium, das er früher intensiver betrieb, besteht hauptsächlich aus Trinkgelagen und Kneipenbesuchen, so wie ich gerne bestimmte Plätze aufsuche der Ruhe wegen, so lotet er die Grenzen seiner physischen Auffassungsmöglichkeiten aus, und manchmal hat er sie bedenklich nahe erreicht. Und ich habe vor einiger Zeit die Grenzen meiner Geduld bei ihm erreicht. Ich wünsche nur, er möge mir die Grenze meiner Geduld nicht weiter beanspruchen und mir weder betrunken noch sich bei mir anbiedernd benehmen. Schleunigst scheuche ich die düsternen Erinnerungen weg – mir steht der Sinn nach Neuem das vielleicht für die meisten Menschen alles andere als aufregend und faszinierend erscheint. mir aber das Gefühl zurückgibt, nicht ganz verloren zu sein, in einer unscheinbaren Welt unentwegt in Bewegung zu sein, zwar sich im Kreise zu bewegen, dies aber bewusst zu tun. Um nicht in dumpfe Schwermut zu verfallen, vor der viele Menschen sich fürchten. Auch mein Bekannter zählt zu ihnen – er gibt sich außergewöhnlich heiter, gelöst, hat immer einen Scherz parat – und hinter seinen Augen sehe ich die nackte, blanke Angst leuchten. Er wird mir selten direkt und fest in die Augen schauen können, und er wird es wieder tun. Ich verachte ihn nicht, er wird eines Tages erfahren, es leben, selber lernen – bis heute war er taub für alle Ratschläge, ich werde künftig nie mehr ein Wort an ihn vergeuden. Es sei denn, er käme auf mich zu – und ich werde mich wie bei einem Tier verhalten, von dem kein Dank zu erwarten ist. Ich suche nun doch Menschen auf, hier ist es belebter als vor wenigen Stunden, und häufig weiche ich Entgegenkommenden aus – es wirft mich aus der Bahn – ich bleibe entnervt und verwirrt stehen – Ecke Poststrasse und Von-Der-Leyen-Strasse, bleibe wie angewurzelt stehen und krame eine Zigarette aus der Brusttasche meiner Jeansjacke. Leute fluten um mich herum wie Wildwasser, ich bleibe stehen und schaue in eine Richtung, auf den Marktplatz, der vollgestopft mit parkenden Autos ist – mein klappriger VW befindet sich dort an der äußersten Ecke des Platzes, schräg gegenüber der Volksbank. Und hier an der Straßenecke beende ich meinen gedankenvollen Gang durch die Stadt. Eine Fortsetzung müsste es geben, der Tag ist wieder Stückwerk geblieben, ich werde mich morgen wieder auf meine Streifzüge begeben. Im Grunde ist die Umgebung unwichtig, genauso gut könnte ich auf Waldwegen vor mich hin sinnieren, ich brauche jedoch den Kontrast zur Natur, die Starrheit der Mauern, die in sich ruhen und weiter am Verwittern sind. Alte Häuser, verkommen und halb zerfallen, haben es mir besonders angetan. Sie gelten als beredte Zeugen der Vergangenheit und sind augenscheinliches Sinnbild des Verfalls von Epochen und deren Irrtümer und Phantasien. Und ich frage mich, worin meine Irrungen wohl bestehen. Vielleicht sind diese halb meditativen, halb unwichtigen Aus- oder Freigänge Ausflüge in eine andere Wirklichkeit, die zu nichts nutze sind, wertvoller, als ich heute ermessen kann. Ich weiß, es gibt keine Fortsetzung morgen, geschweige in einigen Wochen – es bleibt eine einmalige, unwiederholbare Angelegenheit – und es ist schnell dahin und noch schneller vergessen. Eine andere Wirklichkeit, eine Einbildung, keineswegs Trugbilder, es ist sehr reell an seinem Platz, hier und dort, bergauf, bergab. Nur unmerklich ändern sich einzelne Dinge – also mache ich mich auf die Suche nach sich wandelnden Dingen. Menschen ändern sich selten, es sei denn, sie gehen weg von hier, aus der Stadt oder dem Dorf, leben eine Weile woanders und kehren zurück und haben sich verändert, äußerlich noch immer großspurig, auf Haarspaltereien erpicht, mit astronomischen Zahlen und mathematischen Formeln im Kopf – und schauen herablassend nach den alten, im Herzen der Kindheit aufbewahrten Plätzen, die sie heimlich noch immer verehren und sich nach ihnen verzehren. Und sie kommen heim und schauen nach, ob sich auch nichts verändert hat in der heimatlichen Stadt. Sie übersehen die Feinheiten – und fahren so klug wie zuvor wieder ab, mit strohfeurigen Gefühlen. Die Vergangenheit ist ihnen entglitten. Sie verfluchen ihre Sentimentalitäten und nennen sie für sich vorübergehende Torheiten. Wenn keine Gefühle gezeigt werden, ist dies ein Zeichen von Beständigkeit und Charakter. Bin ich deshalb gefühllos, wenn ich für niemanden ansprechbar sein möchte, mir meine Zeit ausfülle mit Schweigen und Grübeln oder Leere, die den höchsten Grad an Zufriedenheit vermittelt, was jedoch schwierig ist, ohne an etwas zu denken durch die Weltgeschichte zu laufen. Säße ich am Rande des Meeres, das Europa umgibt, an einem flachen Strand und hörte den Wellen zu, säße ich an einem lodernden Feuer und starrte in die Flammen, hörten den knackenden Holzscheiten zu, dann hätte ich keine Mühe, das Nachdenken zu lassen für immer. Aber ich sitze nicht dort. Ich bin in meinen Wagen gestiegen, habe den Schlüssel ins Zündschloss gesteckt – und bewege mich wieder fort ins Ziellose, zwar halte ich die Augen offen auf der belebten Strasse, im Inneren bin ich verschlossen und werde den restlichen Tag so bleiben.

Ergänzungen zum Krummau-Oktalog 1991


  Einmal, im vorigen Winter, waren wir beide in Prag, in diesem grauen, östlichen Winter, schmutziger Schnee zuhauf und die schwarzen malerischen Türme von Prag vor Augen. Prag ist an vielen Stellen trist und bietet dem Auge nur städtische Ödnis, zum Glück, was wiederum sehr zweifelhaft aufzufassen ist, ändert sich das bald. Dann sieht es hier aus wie in den anderen europäischen McDonalds-Metropolen, laut, bunt und – westlich. Einmal in Prag – schon denken wir weiter, ans nächste Frühjahr. Wir wollen nach Krummau reisen, in ihr Geburtsland und ihre Stadt, in der sie sechs Jahre ihres Lebens verbrachte. Von unzähligen Fotografien kenne ich Krummau, alte Postkarten mit vergilbten Farben betrachte ich mir sehr gern, und außerdem – aus dem alten Film „Traumstadt“, eine Verfilmung des surrealistischen Romans von Alfred Kubin, Die Dunkle Seite. Wenn wir dorthin kommen, wird es zeitiges Frühjahr sein, zum Glück wird es dann nicht mehr so grau wie im Dezember in Prag dort ausschauen, vielleicht sind die Berge und Wiesen bereits mit frischem Grün übersät, ich weiß es nicht, die alten Bildpostkarten verraten nichts über das heutige Gesicht der kleinen, uralten Stadt an der Moldau. Wie sie klingen, diese Namen und Bezeichnungen, Österreich, Kaiserin Maria Theresia, Böhmen, Herzland Europas – sieht man einmal von den magischen Städten Florenz und Rom ab. Welche Rolle spielte damals wohl Krummau?! War es ein verschlafenes Nest hinter den sieben Bergen Böhmens? Ich werde versuchen, es herauszufinden. Indem ich gemeinsam mit ihr dorthin fahre – in dieses Donaudreieck Passau-Krummau-Linz. Und Krummau hat so wenig mit der Donau zu tun, es ist getrennt durch die böhmischen Gebirgszüge, gäbe es diese nicht, der Moldau-Fluss wäre nur ein unbedeutendes Rinnsal.
Und ich – ich trage einen Haufen Fragen an dieses Land, diese Gegend, mit mir herum – und möchte alle beantwortet wissen. Was sind das für Leute, diese Deutschen, die sich Böhmen nennen? Es gibt doch ebenso noch Böhmen, die Tschechen sind – was hatten sie miteinander zu schaffen? Weshalb waren sie sich so spinnefeind? Diese Frage weiß ich in etwa zu beantworten – die Politik der Mächtigen in all den vergangenen Jahrhunderten, die Arroganz eines Volkes gegenüber einem anderen, hervorgerufen und unterstützt über viele Jahre hinweg durch Ausbeutung und Unterdrückung. Immer dort, wo zwei Kulturen aufeinandertreffen, entstehen diese Konflikte.
Auch das möchte ich noch herausfinden, ob es noch Relikte aus jener Vergangenheit gibt. Ich kenne viele Meinungen böhmischer Flüchtlinge, die sich nach dem Krieg hier in Deutschland niedergelassen haben, kenne ihre Erzählungen aus den Kriegstagen, als es den Deutschen – verdientermassen – an den Kragen ging. Aber es muss doch ein Zusammenleben mit den vielen Völkern gegeben haben, es muss doch Erfreuliches gegeben haben in den friedlicheren Zeiten vor 1938 – vielleicht werde ich es finden in den fünf Tagen, in denen wir uns dort aufhalten.
„Zuerst haben sie halb Europa in Brand gesteckt, und dann wundern sie sich, dass es ihnen so grausam an den Kragen ging.“ Der Gedanke eines jungen Mannes, dessen Eltern ebenfalls aus Böhmen stammen. Er bezieht sich auf alle Deutschen. Und noch etwas: was wird der Vater meiner Freundin sagen, wenn er seine Heimatstadt wiedersieht? Welche Geschichten werden dann wieder in ihm aufkeimen, an was wird er sich erinnern? Ich werde ihm viel von dem guten Wein einschenken, und dann wird er bestimmt zu erzählen anfangen – er selber arbeitete als Bauer, Bäcker, Fuhrmann und was weiß ich noch alles. Damals wurde noch Holz nach Prag auf der Moldau geflößt – wurde noch Holz mit großen Schlitten von den umliegenden Bergen abgefahren, eine gefährliche Arbeit, die dem Großvater meiner Freundin vor beinahe siebzig Jahren das Leben kostete. Ich weiß von ihren Vorfahren nur, dass es harte, zähe Leute gewesen sind – es war ein hartes Land, ist es womöglich heute noch, ein solches Land und die entsprechenden Zeiten dazu, bringen solche zählebigen Leute hervor. Darin unterscheiden sie sich erheblich von den Leuten in unserer Zeit. Aber ist das der einzige Unterschied? Ich werde ununterbrochen rätseln, bis ich einige Indizien gefunden habe, die mich vielleicht befriedigen können.
Vier Tage sind wir unterwegs, quer durch die Vorderpfalz, Baden-Württemberg, Bayern, bis hinüber in die noch weiter östlich gelegene Tschechoslowakei. Für ihren Vater ist es nur die >>Tschechei<<. Dorthin möchte er, wo er vor fünfzig Jahren jung war und gearbeitet und gelebt hat. Wie mag ihm zumute sein? Wie mag ihr zumute sein, wenn sie diese alten Orte sehen wird? Wenn sie beide sehen, was von ihren mehr oder wenigen vagen Erinnerungen übriggeblieben ist? Erstmal verfahren wir beide Unerfahrenen uns in Stuttgart – gar nicht so einfach, den Weg zu ihrem Vater zu finden, wie tausend Schlangenzungen winden sich die Strassen der Vorstädte Stuttgarts und im Ort Kemnat, bis wir endlich vor seiner Tür stehen. Er ist ein ungeduldiger Herr von achtzig Jahren, der bereits an der Gartentür steht zu unserer zweifelhaften Begrüßung, der mit rotem Gesicht und blitzenden Indianeraugen uns klarmachen will, dass wir uns schlimm verspätet haben.
>>Ihr seid’s aber spät dran! Kommt ihr aus Amerika?<< Seine Bagage ist wenig umfangreich und leichtgewichtig, ein kleiner Koffer und eine Tasche mit zwei Paar Schuhen. Dann geht es weiter nach Bayern hinein und quer darüber weg, wie klein mutet mich unser Saarland an, innerhalb einer knappen Autostunde kann man an fast allen saarländischen Grenzen anlangen – hier ist das Land weit ausgebreitet, allmählich geht es in die Niederungen des Donautales über, wenn von Niederungen überhaupt gesprochen werden kann. Der bayrische Wald ist da von einer gänzlich anderen Sorte, es geht rasch steil bergan, anfangs auf einer funkelnagelneuen Autobahn, dann biegen wir in Richtung Passau ab, danach geht es in Richtung deutsch-tschechische Grenze. Rose döst, ihrem Vater ist es zu eng geworden im Fond des Golfs, er möchte an die frische Luft – außerdem ist es Zeit, etwas zu essen. Ich verlasse die Autobahn und suche ein Lokal, wo wir ein Mittagessen zu uns nehmen können – wir finden auch eins, das Essen schmeckt leider nicht gut. Aber wir essen trotzdem, bis zum Einbruch der Dunkelheit werde ich nicht wieder anhalten.
Unsere Unterkunft im Bayerischen Wald ist ein einfacher Gasthof, verbunden mit einer Metzgerei – klein aber gemütlich. Bei der Wirtin bestelle ich Andudeln, im Glauben, es seien Pfälzer Würste – wie sich herausstellt, sind es auch pfälzische – oberpfälzische – Andudeln.

Man merkt doch, dass du in der Pfalz arbeitest, wenn du dir hier schon pfälzische Würste bestellen willst.”

Ja – so tief bin ich gesunken, dass ich mich im tiefsten Bayern bereits als Pfälzer fühle.” Die Würste schmecken gut – das dunkle Bier schmeckt noch besser.

Ob es hier schon tschechisches Bier gibt?!”
Bei unserem abendlichen Rundgang durch das kleine Städtchen entdecken wir keines. Nur viele Geschäfte mit Reiseandenken, Kirchendevotionalien und den üblichen Andenkenkitsch. Begleitet von den Glocken der nahegelegenen, alles überragenden Zwiebelturmkirche umrunden wir das Altstadtviertel – dann ist es Zeit fürs Bett. Der dichte Nebel am nächsten Morgen verspricht nichts Gutes – wir brechen trotzdem auf, obwohl es so aussieht, als sei der November wieder hier eingekehrt, es ist kalt wie im Winter. Hier in den Bergen ist es nun mal so, sagt ihr Vater zu uns. Wie wird es auf der anderen Seite sein, die tschechische Seite dieser Wälder ist noch höhergelegen als die bayrische. Zur Grenze sind es nur wenige Kilometer, die wir schnell hinter uns gebracht haben. Die Zollformalitäten lassen sich zwar nicht vermeiden, aber nach einer dreiviertel Stunde ist dies auch vollbracht. Dann – hinter der Grenze, nur wenige Kilometer weiter im tschechischen Land der schroffe, offensichtliche Gegensatz zu Deutschland, dem säuberlich abgeleckten Gärtchen, das wir als Bayerischen Wald bezeichnen – hier ist tatsächlich noch echter Wald zu finden, und Ödnis und Wildnis und nirgendwo ein Rastplatz, oder eine Mülltonne oder ein Briefkasten. Wir fahren durch Wälder, die sich lange, lange hinziehen, die Strasse windet sich durch sie hindurch, meistens sind es Fichten- und Tannenwälder. Dicht stehen die Bäume, bis nahe an die Strasse reicht der vollgewachsene Bestand der Fichten und Tannen und Kiefern an die Strasse heran, dann wechselt die Landschaft allmählich, wird wieder offener – es ist hier höher gelegen als auf der deutschen Seite, um einiges höher, ich kann es an der Vegetation erkennen, hier auf der Seite des Böhmerwaldes ist noch Mitte Februar, auf der bayrischen Seite ist es Ende April – Schneereste vegetieren noch hier und da in Kuhlen und Mulden an den schattigen Hängen der langgestreckten Berge. Die Gegend ist dünn besiedelt – die Strecke, die wir bis jetzt zurückgelegt haben, und dabei kaum zwei nennenswerte Ortschaften durchfuhren, hätte in Deutschland mindestens zwanzig Ortschaften hervorgebracht. Die Orte selbst – kleine Dörfer, die kaum den Namen Dorf verdient haben, ein paar hingeduckte Häuser, die Strasse mitten durch – schon vorbei, dem Auge entglitten. Vimperk, Prachatitz sind die ersten größeren Stationen, an denen wir haltmachen – Prachatitz ist alt, mittelalterliche Gebäude gibt es zuhauf, viele Barockhäuser, alte Burganlagen, ein uraltes Stadttor, wahrscheinlich aus dem 11. oder 12. Jahrhundert. Ihr Vater weiß nicht, wie alt das Tor ist, aber hier ging er zur Schule, hat seine Lehre als Bäcker begonnen und als Bäcker gearbeitet – er zeigt uns den Rathausplatz – gepflastert mit Kopfsteinen, die krumm und buckelig und abgeschliffen aus der Erde ragen, den Platz fast unbegehbar machen – sehr kurios und alt wirkt das Muster der Steine, ihre zufällige Anwesenheit in einer mittelalterlichen Strenge. Wir beginnen in unseren Winterkleidern zu frösteln und beeilen uns, ein Restaurant aufzusuchen, es steht am Rathausplatz, ragt von allen anderen der benachbarten Gebäuden heraus durch seine elegante Pracht – die anderen Häuser sehen seltsam mitgenommen aus. Vom Zahn der Zeit, vom Krieg, vom vernachlässigenden Sozialismus. Wie prachtvoll wirkt dagegen Prag, voll herausgeputzt, blinkend mit seinen goldenen Türmen und Dächern, alles sauber in den Strassen, alt zwar, uralt, aber weltmännisch und adrett herausgeputzt. Alle Drei sind wir ein wenig enttäuscht – vor allem ihr Vater, dessen Unmut über die tschechische Gammelwirtschaft an diesem Morgen noch zunehmen wird. Wir erklären ihm, dass hier in der Tschechoslowakei die Menschen nichts tun konnten, den Verfall aufzuhalten, es gab keinen Pfennig für die Instandhaltung der historischen Gebäude, geschweige denn für deren Renovierung. Nur in den wenigen Vorzeigestädten wie Prag, Pilsen, Budweis, Eger und anderen wurde die Bausubstanz erhalten, diese aber vorbildlich im östlichen Sozialismus. Die Kommunisten hatten kein Geld für Kulturdenkmäler, schließlich ging der Hauptanteil an Devisen an die Sowjetunion. Aber für ihn sind Tschechen, Polen, Russen und Ukrainer Schlamper und Saboteure, die alles verkommen ließen. Früher, zu seiner Zeit und unter seinesgleichen, habe es hier so schmuck ausgeschaut, die Deutschen wären so auf Sauberkeit bedacht gewesen, so eine Schlamperei habe es damals nie, in keinem Ort nicht, gegeben. Manchmal verstehe ich seinen harten böhmischen Dialekt nicht, der in meinen Ohren wie eine Mischung aus Bayrisch und österreichisch klingt, fragend schaue ich Rose an, sie winkt ab – später wird sie mir alles erklären. Die Suppe, die wir hier am Vormittag serviert bekommen, schmeckt ausgezeichnet. Was nicht heißen soll, dass es hier jederzeit gutes Essen gibt. Dann unterwegs wieder die altvertraute Ödnis der Landschaft im Spätwinter des Jahres 1991 – mir gefälltes. Die Strassen sind holprig und schmal, teilweise reparaturbedürftig, aber wir haben schlimmere Strecken hinter uns gebracht in Jugoslawien oder Südfrankreich. Gegen Mittag reißt die Hochnebeldecke auf, und es gibt einen strahlenden blauen Himmel zu sehen – und deutlich wärmer ist es geworden.

Dann taucht sie auf – die magische Stadt Krummau an der Moldau, mit dem markanten Rundturm der Burg, der auf das 10. Jahrhundert zurückgehen soll. Von vielen Fotos, die Rose mir zeigte, ist mir das Stadtbild schon vertraut, der Turm allein ist unverkennbar – so etwas gibt es im Westen Deutschlands nicht zu sehen.

Krummau -Ceski Krumlov – über der Moldau/Mltava gelegen – über den Bürgerhäusern thront das Schloss, die Schlossburg mit dem noch mächtigeren Turm – er wird gerade restauriert, ist von Baugerüsten umgeben und umstanden, die seine wahre Romantik verhüllen – ich kenne ihn gut von den alten Fotos her, seine derzeitige Baustellengestalt stört mich wenig.

In der Tschechoslowakei ist momentan alles im Umbruch.

Der Parkplatz wird bewacht, was uns sehr recht ist, umgerechnet kostet er für eine Parkzeit von ca. vier Stunden drei DM. was sehr teuer für hiesige Verhältnisse, für uns wiederum spottbillig ist. Es ist wie im Märchen. “In Krummau und oben im Schloss sind schon viele tschechische Märchenfilme gedreht worden.“ In einem der besten Hotels der Stadt nehmen wir unser Mittagessen ein. Es gibt die typisch tschechisch-österreichische Küche – deftig, einfach und ziemlich übelschmeckend. Was sollen wir anders erwarten!? Das Hotel ist eines der obersten Preisklasse, nach westlichem Niveau aber kaum vergleichbar. Müssen wir alles an unserem Goldenen Westen messen? Der quadratische Marktplatz ist blitzblank und sauber, jedenfalls für die hiesigen Verhältnisse. Das heisst, die Hintergassen und Nebeneingänge, die den eigentlichen Kern der Altstadt bilden, sehen sehr verwahrlost aus.

Noel Walterthum im blieskasteler Schloesschenkeller


noel walterthum

bereits bei der kurzen probe wird´s leger, ausser einem kleinen gitarrenverstaerker  wird die auffuehrung rein akustisch dargeboten, fuer meine empfindsamen ohren ohnehin ein echter genuss, verfuegt der schloesschenkeller doch ueber eine hervorragende akustik. das sei absicht, meint noel walterthum, es erzeuge mehr intimitaet. das sogenannte buehnenbild besteht deshalb ausschliesslich aus akustischen gitarren, einem mandocello & einer sehr zurueckhaltend gespielten e-gitarre.

neben teilweise sehr bekannten stuecken von gilbert becaud, michel sardou & adamo´s ´INCH´ ALLAH´, das wiederzuhoeren eine wahre freude fuer mich & meine begleiterin war, spielt er einige eigenkompositionen aus seinen zwei cd´s, wobei die erste seit einiger zeit bereits ausverkauft ist & die zweite in diesem fruehjahr erscheint. noel walterthum ist gitarrist, komponist & texter seiner chansons, & er braucht sich auf keinen fall vor seinen beruehmten kollegen zu verstecken. thema seiner texte ist die liebe in all ihren facetten, & sein unwiderstehlicher charme traegt dazu bei, dass ihm das heutige publikum nach ganz kurzer zeit zu fuessen liegt, was unschwer an den immer laenger andauernden applaussequenzen zu erkennen ist.

was alle diesen liedern vielleicht gemeinsam ist, sie sind ueberaus melodioes & verfuegen ueber eingaengige refrains – ideal, um das publikum zum mitmachen anzuregen. seine beiden musikalischen begleiter, christof & stefan kleuser aus illingen, begleiten ihn den ganzen abend ueberaus subtil, will heissen, einfuehlsam.

Rache ist sauer


– Persönliches zum Orwell-Jahr

Im sogenannten Orwell-Jahr 1984 über den Schriftsteller George Orwell noch etwas zu schreiben, erscheint wohl manchem ziemlich müßig, da die Story dieses Romans, eine düstere Zukunftsvision, in den letzten Jahren und Monaten ausführlich behandelt worden ist. Aber Orwell, sein richtiger Name lautete Eric Arthur Blaire, hat noch ganz andere Sachen geschrieben, die es wert sind, dass man über sie mehr als ein Wort verliert. So z. B. den zweiten Teil der Essays „Rache ist sauer“, deren beide Bände im DiogenesVerlag erschienen sind. Der zweite Teil ist für diejenigen Leser interessant, die sich für Salvador Dali´s Person interessieren. Orwell hat nämlich in dem Essay „Zu Nutz und Frommen der Geistlichkeit – Einige Bemerkungen über Dali“ recht deftig über die Autobiographie des surrealistischen Meisters geschrieben. Seine Aussage hat mit in meiner Meinung über den spanischen Maler sehr beeinflusst. Und zwar negativ – wen´ s interessiert, wohlgemerkt. Was mir an seiner ganzen Schreibweise, seien es kleine journalistische Notizen zum Zeitgeschehen oder die Prosa seiner großartigen unbekannteren Romane gefällt, ist sein klarer Stil. Er schreibt deutlich, stellenweise so glashart, dass einem der Atem stocken könnte. Er beeindruckt mich durch seine Offenheit und Ehrlichkeit, auch sich selbst gegenüber, wie sie selten bei einem Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts feststellbar ist. Vielleicht rührt es daher, dass er jahrelang als Journalist für Rundfunk und Zeitungen tätig war, ehe er nebenbei an seinen Romanen arbeitete. A pro pos – seine Romane, neben >>1984<< hat er noch etliche andere geschrieben. „Mein Katalonien“, oder das berühmte „Der Weg nach Wiegan Pier“. Das erstere stellt keinen Heimatroman dar, sondern ist ein Bericht über seine Kriegserlebnisse als Freiwilliger im Spanischen Bürgerkrieg. Auch in diesem Essayband „Rache ist sauer“ ist eine Art Nachlese, „Rückblick auf den Spanischen Krieg“ enthalten, die mich durch die zutiefst menschlichen Beweggründe des Autors, diesen Bericht zu schreiben, beeindruckten. Anhand von alltäglichen Eindrücken und kriegstypischen Erlebnissen legt er die Grausamkeit und Gedankenlosigkeit bloß, die er dadurch anprangert, indem er sie scheinbar emotionslos beschreibt. Durch seine schonungslose Ehrlichkeit auch sich selber gegenüber wirkt er dabei nie effekthascherisch oder sentimental, geschweige denn schulmeisterlich. Das zweite Buch, „Über George Orwell“, versammelt etliche erstmals ins Deutsche übersetzte Essays sowie Rezensionen und Briefe aus seiner Feder. Erinnerungen über ihn und einige zeitgenössische Essays, u. a. von Bertrand Russel und Arthur Koestler. Hier erfährt man viel Privates über den Menschen George Orwell, aber auch einiges über den Sozialkritiker, der er zeitlebens war, Orwell war zeit seines Lebens Sozialist, jedoch kritisierte er seit seiner Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg die stalinistische Sowjetunion, sein Synonym für das Totalitäre schlechthin. Er schrieb seine treffsicheren Kommentare über alle möglichen Zeitprobleme auf eigenwillige Weise, in seiner berühmt gewordenen Kolumne AS I PLEASE (wie es mir gefällt) verblüffte und faszinierte er in unregelmäßigen Abständen seine Leser.

Abgerundet wird das Buch durch eine ausführliche Zeittafel und eine Biografie. Alles in allem: Zwei interessante Taschenbuchausgaben über einen englischen Schriftsteller, der vierunddreißig Jahre nach seinem Tod immer noch – oder nach wie vor – wichtig ist. 1

1Veröffentlicht im Petzau 1984