Der Aufstand der Koepfe


vom mikrokosmos zum makrobild, so verhalten sich die staedte paris oder berlin zu irgendeiner ihrer provinzstaedte – so verhalten sich VIPs gegenueber duennbluetigen otto-normalverbrauchern. wer sind die einen, wer die anderen? wie es wohl frueher war, will ich hier gar nicht berichten, aber wie es werden koennte, das ist es schon wert, naeher betrachtet zu werden.

ein artikel im neuesten spiegel, nr. 47, hat mich aufgeweckt, wachgeruettelt aus meinem doesigen kaninchenschlaf vor der lauernden schlange – wir wissen es doch alle, spueren es schon seit laengerem, dass die unzufriedenheit in den europaeischen gesellschaften waechst, aber lassen wir europa mal ausser acht, deutschland geht uns viel mehr an – der artikel ist eine dokumentation ueber „der kommende aufstand“, einem anonym veroeffentlichten buch franzoesischer autoren. den text kann man kostenfrei im internet herunterladen.
endlich hat jemand den mund aufgemacht, kann ich nur sagen – & es kommt sehr beunruhigendes auf uns zu, das kann ich auch nur versichern. aber die harten, unmenschlich wirkenden zeiten werden nur uebergang, periode, sein. vielleicht gibt es wieder eine revolution in deutschland oder frankreich – aber bitte kein revolutioenchen wie damals im 19. jahrhundert im deutschen raum, sondern eine richtige, mit allen blutgruppen durchtraenktes schweisstuch der ironiker. da lobe ich mir wieder einmal die franzosen, wenn die als erste losschlagen, & das werden sie gewiss, dann raucht´s aber im gebirg!
ich will auch nicht wissen, was eine neuerliche revolution bewirken soll, ich moechte nur noch wissen, wann sie endlich beginnt.

 

Der etwas andere Weg


Blieskastel vor zweiundsiebzig jahren, 9. november 1938, sagt dieses datum noch hier & da jemandem etwas, ich weiss nur eines: damals haette ich nicht leben wollen, denn es flogen viel zu viele glassplitter umher, & die luft war schwer wie blei: Pogrom in Grossdeutschland, Volks-Zorn, Volks-Genossen & -genossenschaften, staatlich angeordneter terror gegen ein paar wehrlose leute, die schuld an den folgen des versailler vertrages & des ausbruchs des 1. weltkrieges sein sollten. die schuld auf sich laden durch all die jahrhunderte, in denen das christentum ihre schuld erkannte.

gleichwohl, in jener nacht & am folgenden tag endete im saarland, die beschaulichkeit, breitfurter, mimbacher & ein unbekanntes kontingent webenheimer maenner in SA-uniformen traten die tueren juedischer bewohner in blieskastel ein, misshandelten viele leute, verhafteten & transportierten sie in den folgenden tagen & wochen ab in verschiedene lager, wie die KZ´s so schoen pfadfinderdeutsch heute noch genannt werden – Theresienstadt, weiss noch jemand, wo dieses „lager“ sich befand, sogar ich weiss es nicht genau, irgendwo in der heutigen Tschechei. aber das grauen ist ueberall, selbst in jener kleinen, provinziellen stadt blieskastel. auch hier wurden juedische menschen ermordet – oder zu mordplaetzen gekarrt, schlimmer eingesperrt als schlachtvieh. alles, was von ihnen blieb, sind die gedenksteine aus bronze, eingelassen in das pflaster der gerbergasse, bronzene monumente in form von katzenkopfpflaster. aber die erinnerung, diese erinnerung, ist wichtig & sollte erhalten bleiben, unser zeitgeist der 10er jahre kann bald umkippen in totalitaeren duenkel.

doch selbst blieskasteler buerger kannten & fanden mittel & wege, wenigstens ein paar Leute zu schuetzen & durch die kommenden schweren jahre zu bringen. selbst in jener unheilsnacht machten einige nachbarn der jüdischen bewohner ihrem unmut wegen des brutalen vorgehens von sa, ss &/oder gestapo luft, die unverfroren & mit grosser grausamkeit die leute misshandelten.

kann sich noch irgendjemand an den gespenstischen anblick erinnern, als vor jahren eine horde neonazistischer glatzkoepfe fuer mehrere tage in blieskastel residierten, wie sie, stets in der fest geschlossen nen gruppe durch die von-der-leyen-straße zogen? sie hatten nur eines im sinn: krawall machen. sie verbreiteten angst, das muss ich sagen, aber sie zerstoerten nichts oder poebelten die leute an, nichts von alledem. aber aeusserst beunruhigend ihre praesenz & ihr auftreten.

nur zu gerne wuesste ich ein paar namen der sa-leute, die aus mimbach, webenheim oder breitfurt, es waren bestimmt nicht wenige, ihre beweggruende, gefuehle & hintergruende, weshalb sie in diese nazistischen organisationen eintraten & mitmachten, was die partei, ihre partei, mehr oder weniger offen befahl.

ich darf sie allesamt verachten, urteilen moechte ich (noch) nicht, aber die wahrheit sollte ans licht, das scheint mir wichtiger.

wohl wissend, dass es keinen trost, jedoch eine hoffnung gibt, denke ich, seit ich von diesen terrortagen weiss, an die juedischen menschen damals, die all das erleiden mussten. es waren & bleiben menschen – die bewohner blieskastels juedischen glaubens waren im sozialen gefuege dieser typisch saarlaendischen kleinstadt voll integriert & akzeptiert, ja geachtet. sie waren nur menschen aus fleisch & blut, die oppenheimer, joseph &/oder david mit familiennamen – es gehoert nicht viel dazu, sie nicht zu vergessen, ab & zu an sie zu denken, es gibt diesen „anderen“ weg durch blieskastel, den zu gehen etwas ganz besonderes bleiben sollte, im gedenken an die menschlichkeit, an die ungluecklichen juedischen menschen in blieskastel zu jener zeit.

 

Begegnung


  Aus „KaffeehausSkizzen, 1998“

Welch eine Hektik in dieser unausgeschlafenen Stadt in einem noch weniger ausgeschlafenen Landstrich! Soeben musste ich in Panik und Todesangst über die Strasse hetzen, sonst hätte mich ein um die Kurve preschender Mercedes glatt überfahren – und das am frühen Nachmittag, während der alltäglichen Siestazeit – aber kann ich mir die günstigsten Zeitpunkte wirklich aussuchen, bei denen ich um mein Leben laufen muss?! Der Fahrer schreit mir zornig irgendwas zu hinter der geschlossenen Windschutzscheibe, ich verstehe kein einziges Wort, doch setze ich mein dämlichstes Grinsen auf und drehe mich scheinbar freundliche nach ihm um. In diesem Augenblick genieße ich es, das Gemüt eines dreizehnjährigen Schulbuben zu haben, obwohl ich in einem Alter bin, in dem man einen solchen Sohn haben könnte. Aber ich sehe es auch gleich ein, es ist unnötig, aufmüpfig zu sein, es gibt nur böses Blut – und es passierte viel zu viel Ärgerliches an einem einzigen Mittag passiert, der ganz anders, heiterer, viel heiterer hätte verlaufen sollen – jedenfalls in meiner innersten Vorstellung. Aber dem Fahrer hätte ich liebend gerne noch einen meiner obszönen Fingerzeige – rechte Faust vorgereckt mit ausgefahrenem Mittelfinger – hinterhergeschickt, ich lasse es sein, heute ist genug gescherzt worden.

Wohin soll ich gehen, was gibt’s Neues in Blieskastel, und dann fällt mir ein, in der Alten Markthalle des Rathauses läuft eine Ausstellung, die ich nicht versäumen sollte. Ich überquere – da mein Ziel für heute , eine interessante Beschäftigung für die nächsten paar Stunden bis zu meinen Studienarbeiten am Abend zu haben, bestimmt und ausgelotet ist, diesmal um einiges vorsichtiger als vorhin – entschlossener und energischer die Strasse, es ist auch momentan kein Auto unterwegs, und den Marktplatz in Richtung Rathaus. Bevor ich die ehrwürdige Halle betrete, mein Herz klopft heftig, oder ist es die Nachwirkung über den ausgestandenen Schrekken? – betrachte ich eingehend das neben der Eingangstür angebrachte große Plakat, das die Ausstellung mit den Worten ankündigt: “6.000 Jahre Bliesgau”. Den größten Teil der Ausstellungsstücke sind Funde aus Altheim und Rubenheim, bei deren Ausgrabung ich zeitweilig mitwirkte – ich will sie wieder sehen, da diese Stücke, darunter eine goldene Fibel und einige Schwerter aus der Merowingerzeit, restauriert wurden, vor längerer Zeit packte mich schon die Neugier, sie in ihrem jetzigen wohlbehüteten Zustand zu sehen. Nachdem ich den Eintrittspreis bezahlt habe unterhalte ich mich kurz mit Walter R., dem Initiator dieser archäologischen Ausstellung, und einem weiteren jungen Mann, Erik, der ebenfalls mitwirkte im Rubenheimer Wald und auf dem Altheimer merowinigschen Gräberfeld – zu R. sage ich, er sehe keineswegs restaurierungsbedürftig aus, da er einen feinen Anzug, ein weißes Hemd und eine sehr moderne Krawatte trage – und das mitten in der Woche. Der junge Erik lacht, Walter grinst säuerlich über meinen vergleicheziehenden Scherz. Er entgegnet, irgendeiner müsse schließlich Haltung bewahren und Kultur herzeigen – falls sechstausend Jahre im Bliesgau nicht genügen sollten. Walter versteht meine Scherze, er ist vieles von seinen ehemaligen Gehilfen zurückliegender Ausgrabungskampagnen gewohnt. Beinahe gerührt denke ich an diese Zeit zurück, Wochen verbrachten wir dabei in freier Natur, meistens im Rubenheimer Schornwald, es war harte Arbeit, aber sie gab uns eine Art Befriedigung, die keiner anderen Arbeit innewohnen kann, jedem von uns auf seine Art, die wir nur Laien auf dem Gebiet der Vor- und Frühgeschichte waren. Es gab verzwickte und schwierigste Situationen, die es zu meistern galt. Wochenlange Regengüsse, die den reinen Lehm des Waldbodens aufweichten, trockene Zeiten, in denen der Boden wie Zement zusammenbackte – die reinste Knochenarbeit für einen Ausgräber. Und dann die ausgiebigen Feste hinterher, wenn die Grabungen vorüber waren – und hier in der Alten Markthalle konnte der Besucher, wie ich einer war, das Ergebnis aller Bemühungen besichtigen: die ausgestellten, sorgfältig beschrifteten Fundstücke, gesäubert, konserviert, fotografiert, dem interessierten Betrachter sorgsam in ausladenden Glasvitrinen dargeboten – welche Mühe, harte Arbeit und aufgebrachte Geduld steckte im Anblick dieser Exponate.

Da liegen die Altheimer Schwerter, Axtklingen und die bekannte Goldfibel – Fotos und Zeichnungen zeigen ihren in verschiedenen Ausgrabungsphasen dargestellten Zustand – daneben liegt das Original unter Glas – frisch restauriert, sie sieht aus wie neu. Ein kleines Meisterstück spätgermanischer Handwerks- und Goldschmiedekunst. Lange und genau schaue ich sie mir an und bedauere wieder, dass ich nicht dabei war, als man sie ausgrub. Wann bin ich wieder weggegangen aus dieser Ausstellungshalle, zwei Stunden später? Drei Stunden später? Erst, nachdem ich beinahe jedes originale Stück aus den keltischen und merowingischen Gräbern betrachtet, den dazugehörigen Begleittext auf großen aufgestellten Tafeln gelesen habe, bin ich fürs erste zufrieden. Aber wiederkommen will ich noch mal und einzelne Objekte fotografieren. Wieder draußen auf der Strasse gehe ich einen Kaffee trinken in einer der Blieskasteler Kneipen. Die Sonne steht tief am südwestlichen Himmel, lange Schatten der Platanen und der umliegenden Häuser rund um den Blieskasteler Marktplatz verdüstern ihn, auf dem um diese Tageszeit weit mehr Fahrzeuge als um die Mittagszeit parken – ein gewohntes, aber unschönes Bild. Ehe ich mich in Gedanken versunken wieder an die unmittelbare Gegenwart, sprich Langeweile, die in Gestalt blecherner Wunderwerke moderner Technik den Platz übervölkern, gewöhne, tippt mir jemand auf die Schulter. Es ist Volker, ehemaliger Ausgräber wie ich, der seit Jahren bei Walters Projekten dabei ist – und jüngst von der Bundeswehr entlassen – er studiert bereits in Saarbrükken, wie er mir erzählt. Aber das jetzige Studium sei nicht das richtige Studium, fügt er gleich darauf hinzu. Auf meine Frage, welches Fach er denn studiere, sagt er etwas kleinlaut – Chemie. Doch werde er bald ins Fach Archäologie überwechseln. Wieder einer von diesen Verrückten mehr, sage ich lachend. Er meint, die Archäologie sei wie eine Sucht, früher oder später würden wir uns alle dort einfinden. Unter oder über der Erde, frage ich ihn. Dann verabschiedet er sich. Über die unstete studentische Jugend nachsinnend gehe ich quer über den Platz, und dann erwischt es mich beinahe doch noch. Um Haaresbreite verfehlt mich ein zurückstoßender Renault 4. Und hinterm Steuer sitzt jemand, den ich gut kenne – Mechthild, eine junge Frau aus Blieskastel. Sie entschuldigt sich mehrmals, sie habe mich nicht gesehen und lädt mich spontan ein, mit ihr nach Hause zu fahren und Kaffee und Kuchen zu genießen, als Wiedergutmachung für den ausgestandenen Schrecken.

Nachdem ich meine fünf Sinne wieder beisammen habe, erfreue ich mich an dem sündhaft schwarzen Kaffee, dem munteren Geplauder Mechthilds, die eine komplette Schwarzwälder Kirschtorte unterwegs gekauft hat und der leisen spanischen Musik aus dem Radio. Schon eine Weile sitze ich in ihrer Wohnung an einem kleinen runden Tisch, verschlinge ein Stück Kuchen nach dem anderen und frage mich allmählich, was ein schreiender Mercedesfahrer mit einer runden Goldfibel und dem Schwarzwald zu tun hat.

Gassenlauf


  Aus „KaffeehausSkizzen, 1998“

Ein Müßiggänger inmitten der Stadt bewegt sich auf dünnen Brettern, beziehungsweise auf dünnem Asphalt, ihm kann es jederzeit widerfahren, dass er jemanden auf der Strasse trifft, einen Ungebetenen, der ihm zufällig über den Weg läuft und leichtfertig über die Schulter guckt, ihm überflüssige Fragen stellt oder zu einem ebenso unangebrachten Bier animieren will. Mit einem Gang in die nächstbeste Kneipe, es gibt in Blieskastel etwa vierzehn davon, wäre das Maß an verbummelter Zeit voll, und in Kneipen trifft man selbst zu früher Stunde die seltsamsten städtischen Sumpfpflanzen. Ich will mich nicht ausschließen, aber ich möchte eine Weile alleine sein, gehen und schauen was sich an Veränderungen in den letzten Wochen und Monaten abzeichnete, veränderte, was von unter Zeitdruck Stehenden für gewöhnlich übersehen wird. Über Zeit verfüge ich genügend, ich fange vieles an, was anderen versagt bleibt:: ich sammele Bilder, die sich nur demjenigen einprägen, der genauestens nach ihnen Ausschau hält, sammele Gesichter von Fremden wie Fotografien, die anziehend genug sind, sie lange im Gedächtnis zu behalten. Es gibt genügend zu sehen, zu hören und zu riechen in einer Stadt, in der für gewöhnlich nicht viel läuft. In einer gleichförmigen Umgebung gibt es durchaus noch Unruhe und Bewegung zu entdecken. Nehme ich als erstes den Markt, zweimal in der Woche findet er statt. Hier sind Gerüche zu ergründen, neue Gesichter zu sehen und zu entdecken, Laute zu hören, die selten an anderen Tagen zu vernehmen sind – ein Wochenmarkt ist der kulturelle Mittelpunkt der kleineren Städte – wie zu allen Epochen bunt, laut, grell, vielstimmig, leger, brodelnd, spießig, bourgeois – lebendig. Leider bleibe ich nie länger als ein paar gehetzte Minuten stehen und biete meine geistigen Kräfte auf, die Szenerien auf einen Schlag aufzunehmen. Das Treiben auf dem Marktplatz, der einmal ein Exerzierplatz war, versetzt mich dennoch in Unruhe, ich werde zu leicht nervös. An anderen Tagen, wo die Stille und Schläfrigkeit vorherrschen in den wenigen engen Gassen, suche ich diese quirlige Lebendigkeit allerdings vergeblich. Dann sehen verloren wirkende Ecken und Winkel in den Gassen noch verlorener aus, abgelegenere Gassen und Gäßchen sind noch mehr verhärmt, und ein Mensch, der durch diese Gassen und Sträußchen streift, ohne zielstrebig seines Weges zu gehen, sich nur von Pflastern, Seitenwegen, halb zerfallenen Stufen leiten und verlocken lässt, wirkt dadurch wie ein Heimkehrer aus der Fremde, der sich nicht mehr auskennt, weil sich zuviel veränderte. Hier in den ältesten Strassen des Blieskasteler >>Hinnerecks<< fühle ich mich auf meinen seltenen Besuchsgängen recht unbehaglich. Ich beeile mich, weiter bergauf zu kommen, um über die Ziegeldächer des alten Blieskastels schauen zu können. Von hier oben ist das südliche Bliestal mit der Mimbacher Kirche in der Ferne weit zu überblicken. Die Stadt ist entrückt aus der unmittelbaren Realität und liegt einige Meter unter mir, obschon ich mich mitten im Kern befinde – nur ein wenig abseits liegt die Stelle, die es mir angetan hat, eine verwitternde Holzbank steht da, überschattende Zweige alter Bäume und Gebüsch ringsum, und die Aussicht ist gut. Auf dem Schlossberg gegenüber mir sieht man deutlich und nahe die Orangerie des längst verschwundenen Schlosses der Blieskasteler Grafen. Gegenwärtig wird sie renoviert, ein kleiner Park oder Schlossgarten wird angelegt, er wird eine Idylle vortäuschen, die es nicht gibt. Das Gelände der Orangerie gehört dem Saarland.

Nun bin ich wieder hinuntergestiegen in die verkehrsbedrängten Strassen, bin den mit Kopfsteinen gepflasterten Schlossbergweg, die Schlossbergstrasse, herabgekommen – um diese Tageszeit branden erste Wellen des hektischen Feierabendverkehrs hier durch – gegen siebzehn Uhr wird er dichter und dichter, eine endlose Autoschlange kriecht über die Bliesbrücke. Ein Spuk, der allerdings schnell verfliegt, keine zwei Stunden später ist die Innenstadt wieder wie ausgestorben. Gespenstisch sind dann die leeren Strassen. Aber so lange halte ich es nie hier aus. Dann fürchte ich, durch die Hektik, meine aufgesammelten Beobachtungen nicht ausreifen zu können, sie in aller Ruhe für meine kreativen Zwecke zu nutzen.

Soweit ist es jedoch nicht, und wann diese Eindrücke in meinem Kopf wieder in Erscheinen treten werden, kann ich nicht voraussehen. Konnte mein Gang nun ohne Zwischenfälle, wie sie zu Beginn beschrieben wurden, beendet werden, und bleibt genug Zeit, mich irgendwo auszuruhen, einen Kaffee zu trinken, dann wird dieser mit Beobachtungen angefüllte Tag keinesfalls wertlos für mich sein. Es gibt genügend andere Tage, an denen mir deren Nutzlosigkeit nur allzu bewusst wird. Was kann ich aber demjenigen sagen, das ich so lange in dem allgemein als langweilig angesehenen Ort getrieben habe. Ich weiß es nicht. Er wird Müßiggang mit Faulenzen und beabsichtigtem Nichtstun gleichsetzen – und wenn ich ihm sagte, etwas Bestimmtes und für mich ungemein Wertvolles gesammelt zu haben, über das ich ihm augenblicklich keine näheren Auskünfte geben könne, dann wird er verständnislos den Kopf schütteln und mich derjenigen Sorte Idioten zurechnen, die mit ihrer Freizeit nichts anzufangen wissen, und über ihren Trödeleien allmählich den Verstand verlieren. Aber ich trödele keineswegs.

Anders wird es im entgegengesetzten Fall sein – angenommen, mir passiert es, und ich treffe einen derartig unangenehmen Zeitgenossen – er braucht keinesfalls unangenehm oder unwillkommen zu sein – er stört mich auch wenig bei meinem Sinnieren, wenn er mir dafür noch die Zeit lässt. Er wird mich ganz schnell umstimmen und sehr ablenken, ich werde schwach und gehe mit ihm auf ein Bier, eine Plauderei, einen Aufenthalt, auf eine vertrödelte Zeit miteinander. Zum Glück spaziere ich gerne bei Regen durch die Gasse, Regen hält manche Leute ab, mehr als zwei Minuten auf die Strasse zu gehen – mich kümmert´s nicht, und wenn ich nass werden sollte, dann ignoriere ich dies, außer im Winter. Bei Dauerregen habe ich mich eigenartigerweise niemals unwohl gefühlt. Es tut mit gut, wenn ich nasse Haare abbekomme und die Schuhe durchgeweicht sind. Heute aber werde ich von Regen und ungebetenen Störenfrieden verschont. Und ausgerechnet jetzt beginne ich mich nach einem derartigen Aufeinandertreffen zu sehnen, irgendjemand aus meinem Bekanntenkreis könnte mich eigentlich doch unverhofft ansprechen. Aber der Moment bleibt aus. Heute gehe ich alleine meines Weges, wie ich es heute auch vorhatte. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, ich habe noch genügend Zeit, unbesorgt irgendwo einzukehren, so mache ich mich auf, in das Lokal >>Zum Hinnereck<< zu gehen, das ich selten aufsuche, eigentlich nur, um Sonntagabends ein Wochenende entsprechend schonend ausklingen zu lassen. Dort ist es relativ ruhig, das obere Geschoß ist wie geschaffen zum Verweilen, meist dient es mir zum Ausruhen vom Tag und von Gedanken, die mich über die Zeiten hinaus verfolgen. Lange bleibe ich nicht, trinke übereilt aus und gehe wieder weg. Ein anderes Mal werde ich bestimmt wiederkommen, aber nachmittags sind die Lokale unerträglich – es mag an bestimmten Menschen liegen, die auf ähnliche oder noch tristere Weise ihre Zeit da drin verbringen. Zumindest abends sieht man ihre gezeichneten Visagen schlechter, am Tag sind sie umso deutlicher sichtbar, und ihre offengelegte Langeweile zwingt sie zu noch sinnloserem Fabulieren, Prahlen und Lügen. Mich sollen sie heute ungestört lassen, mir steht der Sinn nach etwas anderem, nach freiwilliger Einsamkeit, diese ist mir teuer und unentbehrlich geworden. Eine gewollte Ziellosigkeit ist keine mehr, ich gehe mit dem Ziel, nirgendwohin zu wollen durch diese Strassen und Gassen – auch diesmal, es ist mittlerweile siebzehn Uhr, daheim wird wenig Aufregendes auf mich warten, und auch mein klappriger gelber VW ist wenig verlockend.

In den engen Strassen pulsiert es, das aufregende Leben der arbeitenden Bevölkerung, morgens zur Arbeit und abends wieder zurück, morgens zur Arbeit und abends —- der Feierabendverkehr bewegt sich im rasenden Tempo schrittweise voran, die Luft ist übersättigt mit stinkenden Abgasen, aber in der nächsten Stunde wird es so ruhig sein, als sei diese kleine, aber heftig ablaufende Stunde nie passiert. Ich gehe runter in die Alte Marktstrasse und bleibe vor den Auslagen des Musikgeschäfts stehen, sie haben neue akustische Gitarren ausgestellt, bewundernd lasse ich meine Blicke über die Korpusse und schlanken Hälse der Country-Gitarren wandern, die mein Ideal an Gitarren darstellen. Nun treffe ich doch noch auf jemanden, der mir im Moment recht willkommen ist, ein junger Mann, Student wie ich, wir beschließen spontan, einen Gang hinauf zum Kloster zu machen. Dort sei er schon lange nicht mehr gewesen, er wolle auch mit mir dorthin spazieren und mit mir plaudern, aber nicht lange, gestern habe er zuviel getrunken und wolle nur seinen schmerzenden Kopf auskühlen und anschließend etwas trinken gehen. Womit der Kreislauf wieder geschlossen wäre. O, tut mir leid, sage ich und erzähle mit wenigen Worten und Sätzen, was ich nachmittags getrieben habe, er meint, da könnten wir genauso gut auf der Stelle ein Bier trinken gehen. Sein Kopfschmerz sei ihm mittlerweile eh gleichgültig, Schmerz hin, Schmerz her, nun müsse er bald ein kühles Bier trinken gehen. Ich wiederhole noch einmal, dass ich gerade vom Hinnereck käme – er meint daraufhin pikiert, er gehe dann mal alleine. Ich starre ihm nach und lasse ihn gehen, meine stille Freude, einen wirklich ruhigen Nachmittag hier in der Stadt verbracht zu haben, wäre zum Teufel. Ich schlage die entgegengesetzte Richtung ein und tue damit das Gegenteil, was andere von mir erwarten. Ich weiß zu genau, wie der Abend mit meinem Bekannten geendet hätte, mir schaudert es bei dem Gedanken, ihn zum x-ten Mal stockbesoffen heimzufahren, vor seinem Haus zu warten, bis er die Tür findet und nicht vorher in die Vorgartenbeete und Rosen zu fallen.

Mein Bekannter ist auch ein Student – und ein Müßiggänger ganz anderen Kalibers, ob besser oder schlechter als meine Art, das ist einerlei. Sein leben neben dem Studium, das er früher intensiver betrieb, besteht hauptsächlich aus Trinkgelagen und Kneipenbesuchen, so wie ich gerne bestimmte Plätze aufsuche der Ruhe wegen, so lotet er die Grenzen seiner physischen Auffassungsmöglichkeiten aus, und manchmal hat er sie bedenklich nahe erreicht. Und ich habe vor einiger Zeit die Grenzen meiner Geduld bei ihm erreicht. Ich wünsche nur, er möge mir die Grenze meiner Geduld nicht weiter beanspruchen und mir weder betrunken noch sich bei mir anbiedernd benehmen. Schleunigst scheuche ich die düsternen Erinnerungen weg – mir steht der Sinn nach Neuem das vielleicht für die meisten Menschen alles andere als aufregend und faszinierend erscheint. mir aber das Gefühl zurückgibt, nicht ganz verloren zu sein, in einer unscheinbaren Welt unentwegt in Bewegung zu sein, zwar sich im Kreise zu bewegen, dies aber bewusst zu tun. Um nicht in dumpfe Schwermut zu verfallen, vor der viele Menschen sich fürchten. Auch mein Bekannter zählt zu ihnen – er gibt sich außergewöhnlich heiter, gelöst, hat immer einen Scherz parat – und hinter seinen Augen sehe ich die nackte, blanke Angst leuchten. Er wird mir selten direkt und fest in die Augen schauen können, und er wird es wieder tun. Ich verachte ihn nicht, er wird eines Tages erfahren, es leben, selber lernen – bis heute war er taub für alle Ratschläge, ich werde künftig nie mehr ein Wort an ihn vergeuden. Es sei denn, er käme auf mich zu – und ich werde mich wie bei einem Tier verhalten, von dem kein Dank zu erwarten ist. Ich suche nun doch Menschen auf, hier ist es belebter als vor wenigen Stunden, und häufig weiche ich Entgegenkommenden aus – es wirft mich aus der Bahn – ich bleibe entnervt und verwirrt stehen – Ecke Poststrasse und Von-Der-Leyen-Strasse, bleibe wie angewurzelt stehen und krame eine Zigarette aus der Brusttasche meiner Jeansjacke. Leute fluten um mich herum wie Wildwasser, ich bleibe stehen und schaue in eine Richtung, auf den Marktplatz, der vollgestopft mit parkenden Autos ist – mein klappriger VW befindet sich dort an der äußersten Ecke des Platzes, schräg gegenüber der Volksbank. Und hier an der Straßenecke beende ich meinen gedankenvollen Gang durch die Stadt. Eine Fortsetzung müsste es geben, der Tag ist wieder Stückwerk geblieben, ich werde mich morgen wieder auf meine Streifzüge begeben. Im Grunde ist die Umgebung unwichtig, genauso gut könnte ich auf Waldwegen vor mich hin sinnieren, ich brauche jedoch den Kontrast zur Natur, die Starrheit der Mauern, die in sich ruhen und weiter am Verwittern sind. Alte Häuser, verkommen und halb zerfallen, haben es mir besonders angetan. Sie gelten als beredte Zeugen der Vergangenheit und sind augenscheinliches Sinnbild des Verfalls von Epochen und deren Irrtümer und Phantasien. Und ich frage mich, worin meine Irrungen wohl bestehen. Vielleicht sind diese halb meditativen, halb unwichtigen Aus- oder Freigänge Ausflüge in eine andere Wirklichkeit, die zu nichts nutze sind, wertvoller, als ich heute ermessen kann. Ich weiß, es gibt keine Fortsetzung morgen, geschweige in einigen Wochen – es bleibt eine einmalige, unwiederholbare Angelegenheit – und es ist schnell dahin und noch schneller vergessen. Eine andere Wirklichkeit, eine Einbildung, keineswegs Trugbilder, es ist sehr reell an seinem Platz, hier und dort, bergauf, bergab. Nur unmerklich ändern sich einzelne Dinge – also mache ich mich auf die Suche nach sich wandelnden Dingen. Menschen ändern sich selten, es sei denn, sie gehen weg von hier, aus der Stadt oder dem Dorf, leben eine Weile woanders und kehren zurück und haben sich verändert, äußerlich noch immer großspurig, auf Haarspaltereien erpicht, mit astronomischen Zahlen und mathematischen Formeln im Kopf – und schauen herablassend nach den alten, im Herzen der Kindheit aufbewahrten Plätzen, die sie heimlich noch immer verehren und sich nach ihnen verzehren. Und sie kommen heim und schauen nach, ob sich auch nichts verändert hat in der heimatlichen Stadt. Sie übersehen die Feinheiten – und fahren so klug wie zuvor wieder ab, mit strohfeurigen Gefühlen. Die Vergangenheit ist ihnen entglitten. Sie verfluchen ihre Sentimentalitäten und nennen sie für sich vorübergehende Torheiten. Wenn keine Gefühle gezeigt werden, ist dies ein Zeichen von Beständigkeit und Charakter. Bin ich deshalb gefühllos, wenn ich für niemanden ansprechbar sein möchte, mir meine Zeit ausfülle mit Schweigen und Grübeln oder Leere, die den höchsten Grad an Zufriedenheit vermittelt, was jedoch schwierig ist, ohne an etwas zu denken durch die Weltgeschichte zu laufen. Säße ich am Rande des Meeres, das Europa umgibt, an einem flachen Strand und hörte den Wellen zu, säße ich an einem lodernden Feuer und starrte in die Flammen, hörten den knackenden Holzscheiten zu, dann hätte ich keine Mühe, das Nachdenken zu lassen für immer. Aber ich sitze nicht dort. Ich bin in meinen Wagen gestiegen, habe den Schlüssel ins Zündschloss gesteckt – und bewege mich wieder fort ins Ziellose, zwar halte ich die Augen offen auf der belebten Strasse, im Inneren bin ich verschlossen und werde den restlichen Tag so bleiben.

Kleine Leute und ihre Freuden


Aus „KaffeehausSkizzen, 1998“ 

Was hat ein deutsches, nein, ein saarländisches Dorf mit Afrika zu tun? Hat Afrika denn irgendetwas mit der Bundesrepublik Deutschland zu tun? —— Ganz gewiss, werden sich Einige zu Wort melden, dorthin gehen doch unsere vielen Steuergelder als Entwicklungshilfe, damit wir die Bimbos aus dem Urwald holen können.

Nun, solchen Argumentierern kann man Zynismus vorwerfen, dabei werden sie nicht einmal wissen, was das Wort bedeutet. Also, noch einmal von vorn: was hat ein Dorf, Stadtteil von Blieskastel, so um die 1200 Einwohner und diese fast alle weiß, mit dem Erdteil Afrika gemeinsam? Halt: Stop! – sogar mit zwei Erdteilen, Amerika gehört noch dazu, aber darüber später.

Also, das kleine Dörfchen hat seit einiger Zeit einen Schwarzen, genauer gesagt, einen jungen Mann aus Nigeria zu Besuch. Er geht natürlich wieder in absehbarer Zeit, bleiben kann er nicht, wenn sein Studium beendet ist, fährt er sicher wieder in sein Heimatland, um dort mit seinem Wissen viel Geld zu verdienen. Da er nun mal da ist …… er spielt ein wenig Fußball in der Dorfmannschaft (“Ein Neger bringt vielleicht Farbe ins Spiel”), anfangs wurde dieses Phänomen ehrlich bestaunt, es verwunderte, dass ein Schwarzer die gelbroten Trikotfarben trug (also doch mehr Farbe, hab ich’s doch gewusst!), manche Leute staunten so sehr, dass es in ihre offenen Münder hineinregnete. Vielleicht haben sie sich mittlerweile an diesen ungewöhnlichen Anblick gewöhnt, sie halten sie inzwischen wieder geschlossen (oder sollte es noch andere Gründe dafür geben?). Jedenfalls, Aufsehen erregen sie immer, die Fremden, und wenn sie zusätzlich eine andere Hautfarbe haben, gerät dieses Aufsehen zu einem großen Ereignis. Und dieses Ereignis fand kürzlich in einer Gastwirtschaft dieses kleinen Dorfes statt, die vor nicht allzu langer Zeit als d e r Angelpunkt im dörflichen Kulturleben galt. Nun, der junge Nigerianer, Shody oder Jody nannte er sich, einige Dörfler haben daraus sofort “JUDY” gemacht – man weiß ja, der Schimpanse aus DAKTARI, aus der gleichnamigen amerikanischen (aha!) Fernsehserie aus den Sechzigern, in der kamen ja auch Schwarze vor, weil sie in Afrika spielte, obwohl sie in den USA gedreht wurde (wo haben die bloß all die Schwarzen hergehabt?) – man muss nur richtige Asso – Ziationen anwenden und gebrauchen können – dieser junge afrikanische Student begab sich eines Abends in besagte Kneipe. Leider hatte er von vorneherein den Fehler begangen, sich im Verlauf einer an diesem Tag stattfindenden Geburtstagsfeier betrunken und deshalb sehr gutgelaunt und aufgekratzt die Dorfschänke betreten zu haben, außerdem, so stellte sich später heraus, hatte er die Frechheit besessen, so ungefähr der siebte oder achte Gast dieser Gastronomie – der Wirt leidet überdies an Gastritis – zu sein, was dem Wirt einen augenblicklichen Dorn in sein Holzauge – äh — Wirtsauge trieb, denn zu solch später Stunde bedient der Wirt so viele Gäste ungern zur gleichen Zeit, und dazu noch alle auf einmal ….. und da er ausländischer Student ist, was man an seiner schwarzen Hautfarbe ja unschwer erkennen konnte, bedeutete dieser Umstand einen rabenschwarzen Dorn in seinem Auge. Aber die Stimme des Volkes und gewissermaßen aus diesem Volkskörper heraus ließ nicht lange auf sich warten in Gestalt zweier muskulöser Burschen, die dem Alkohol gleichfalls nicht gerade übermäßig abhold gewesen waren, da sie den Ärger über ein soeben beendetes Länderspiel zwischen Deutschland und —–, das mit einer Niederlage für die Deutschen endete, hinunterspülen mussten, meldeten sich diese Stimmen eines reinen, lauteren Volkes zu Wort. Und da sie, wie bereits erwähnt, von muskulöser Statur waren, nahmen sie diese sportliche Eigenschaft zu Hilfe und gingen sogleich in die Offensive – bekräftigten schlagfertig ihre Argumente, denn die Diskussion darüber, was dieser schwarze Junge hier zu suchen habe, schlug nach kurzer Zeit in ein Streitgespräch um, das keiner Unsachlichkeit entbehrte – kurzum, die Diskussion wurde derart hitzig und pikant, dass einige Umstehende sich genötigt fühlten, in die lebhafte Gesprächsrunde (bei einem f a i r e n Boxkampf sind es bekanntermaßen fünfzehn Runden) einzusteigen mit Argumenten wie: “…… hab ` nen Bruder in Afrika lassen müssen!” “…. soll sich nach Afrika schaffen, in den Busch, wo er her kommt.”

Vox populi, vox Rindvieh.

Die Ereignisse überstürzten sich, die heißblütige Diskussion musste draußen auf der Strasse fortgesetzt werden. Aber einem schwarzen Studenten kann man noch so gutwillig zureden, er wird nie schlau aus dem werden, was man ihm sagt. Eher wird er grün und blau von diesen schlagenden Argumenten – blau war er eh´ schon! – und dass man ihn darüberhinaus noch zu den Grünen zählt, würde man doch nicht für möglich halten.

Die hitzige Diskussion verlief sich dann in der Umgebung des Feuerwehrhauses, der junge Schwarze hatte mit krachenden Auflüchten das Argumentierschlachtfeld verlassen und fühlte sich in seiner Niederlage gänzlich zerschlagen, als er zu Bett gegangen war.

Was hat das Ganze nur mi Amerika zu tun, werden sich nun Viele fragen, ich halte e i n e mögliche Antwort oder Folgerung für möglich, bin mir allerdings nicht sicher, ob sie so zutrifft, aber ich folgerte, als ich diese Geschichte hörte daraus, dass einige Leute wohl manchmal mehr als geneigt sind, einen deutschen Ku-Klux-Klan aufzuziehen – deshalb die Verbindung mit den USA, dort gibt’s auch Schwarze und die kamen wiederum aus Afrika, nicht ganz so freiwillig wie afrikanische schwarze Studenten nach Europa, aber immerhin, ein aufrechter Amerikaner wird sich gewiss schon lange gefragt haben, weshalb diese Schwarzen nicht wieder dorthin zurückkehren, wo sie mal hergekommen sind (wieder d i e s e s Argument!), da sie doch unfreiwillig in die USA kamen – aber das hatten wir schon einmal angeschnitten…..

Weg in Mimbach


Aus „KaffeehausSkizzen, 1998“

Aus längst überwucherten vergangenen Zeiten, von längst mit Gras und Moos und Ried überwachsenen Pfaden und versteckten alten Wegen, die nur schwerlich und dem geübten Auge zugänglich als solche erkennbar sind, kündet diese Stelle am unteren Ende des unweit der Blies gelegenen Teil des Dorfes, wo ich jetzt stehe und verharre und die Plätze, die heimlichen Schlupfwinkel, die fast alle einzig in meiner Phantasie der letzten dreissig Jahre existierten, erkunde – oder besser gesagt, wieder aufsuche – sie sind noch da, es gibt sie noch, das abgelegene Wehr, die alte Flussbarriere, als man die Blies begann einzudämmen, dort, wo sie seit vielen Dekaden für eine kurze Strecke in gezähmten Bahnen dahinströmt, sich aber anhört wie Wildbäche des entlegenen Nordens. Als ich hier stand als Kind, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, hatte ich Angst vor dem Wasser, das sich, höchst ungewohnt für mich, in einem sehr breiten Band dahinwälzte – ich vermied es, dem abschüssigen Steilufer zu nahe zu kommen, diese Stelle bildete das rechte Ufer einer Insel in der Blies, die teilweise als Weide genutzt wurde. Es war etwas Besonderes, hinüber auf diese Insel zu gelangen. An einer Stelle weiter flussabwärts ertrank vor über vierzig Jahren, als meine Mutter ein junges Mädchen war, eine junge Frau in ihrem Alter – wir später geborenen Kinder bekamen die Stele gezeigt, wo man ihre Leiche gefunden und sie aus dem Wasser gefischt hatte. Vor dieser Stele fürchtete ich mich fortan. Gerade heute, da ich wieder einmal hier stehe, die Blies und ihre Ufer betrachte, fällt es mir wieder ein – inzwischen fehlt was, vor vielen Jahren gab es hier noch ein Summen in einem unbestimmbaren aber zu lokalisierenden Ton, er stammte aus der alten Mühle am Wehr, das Geräusch laufender Maschinen, die Getreidemühlen – vielleicht erinnerte der Ton an fliegende Hornissen – schon aus einiger Entfernung von der Mühle konnte er wahrgenommen werden. Es bedeutete für mich nichts Gutes, diesem Geräusch nachzugehen, obgleich ich mich hier am Ende des Dorfe gut auskannte, aber er konnte mich einfangen, ich folgte ihm, er zog mich manches Mal in seinen Bann. Ich sah vom sicheren Eisengeländer abgeschirmt hinab in das reißende Wasser des Mühlengrabens, der direkt an der Mühle vorbeigeleitet wurde, sah schaudernd und fasziniert die einem offenen zähnestarrenden Krokodilmaul ähnelnden Gitterstäbe des Wehrs, das reißende Maul des Wasserraubtiers, das Wasser ausspie und Äste, ja mitunter sogar kleine Bäume in großen wirbelnden Strudeln gefangenhielt und sie dann urplötzlich, was von ihnen übrigblieb, durch die Stäbe ließ. Die Mühle selbst und die dazugehörigen Wirtschafts- und Wohnhäuser bilden zusammengenommen eine der ältesten Stellen im Dorf – als sie noch bewirtschaftet wurde, gingst hier unten lebhaft zu, heute ist es still und fern aller menschlichen Betriebsamkeit. Wie gewohnt lehne ich wieder am beidseitigen Geländer der Wehrbrücke, die zur Insel hinüber führt, schaue in scheinbar träge Fluten, die braun und schwarz und schlammig wirken, was aber von dem schlammigen Flussgrund herrührt, den Ablagerungen vieler Jahrzehnte industrieller Abwässerentsorgung. Wieder denke ich an die vergangenen Kinderzeiten, an die kleinen Erlebnisse, und wie klar sie mir im Gedächtnis geblieben sind. So geht es wohl alten Menschen, wenn sie die geliebten Orte ihrer intensiv gelebten jungen Jahre wiedersehen und -finden. Für einige Atemzüge bin ich ein Alter des Dorfes Mimbach, der seine besseren Jahre längst hinter sich hat und zu seinen Anfängen, zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Was der Beweggrund dafür sein mag – es ist weniger die müßige Sonntagsvormittagsstunde, eher der Gedanke an eine triste Jugend. Es ist an der Zeit nachzudenken und sich an erfreulichere Ereignisse der Vergangenheit zu erinnern, seien sie auch dürftiger und weniger zahlreich als die meiner gleichaltrigen Zeitgenossen. Heute sind wir Männer und Frauen um die Dreissig und darüber hinaus, wir benutzen die alten Namen von früher, wenn wir uns anreden bei einem zufälligen Treffen, nicht ohne Stolz – und nicht ohne ab und zu aufblitzende Melancholie. Wir teilen sie mit, wenn wir zufällig durch Erzählungen uns einander öffnen, nennen sie aber nie beim Namen – wenn alte Geschichten wieder und wieder aufgewärmt werden, sehen wir uns selten in die Augen dabei, die, wenn wir beim Erzählen sind, sich mit Tränen füllen. Oder waren’s meine eigenen und ich gab mich einer Täuschung hin. Heute teilt niemand mit mir eine Geschichte oder eine Träne – ich stehe allein am Wasser, schaudere genauso wieder beim Geräusche des Wehres – dieser Ort besitzt wahrlich noch etwas, das mich nach langer Zeit noch berühren kann. Bis hierher könnte mir keiner folgen – drüben im noch einzigen bewohnten Haus sehe ich ein paar Leute die Treppe herabgehen, sie steigen in ein Auto und fahren davon, zwei Mädchen, ein älterer, hochgewachsener Mann, womöglich der Vater der Mädchen – sie fahren weg, das Klappen der Autotüren wird von den Wänden reflektiert, ein stumpfer nasser Ton, und alles übertönt der laute Fluss. Sie gehören nicht hierher, dessen bin ich mir sicher, sie würdigen die Mühle keines Blickes. Stadtmenschen, die kommen und leer, wie sie kamen, wieder verschwinden. Halten diese Menschen auch einmal Andacht an die Kindheit? Was sagt einem Fremden, der nicht als Kind dabeigewesen ist, die Farben des Wassers an einem bestimmten Tag in einer bestimmten Saison, oder das Fehlen eines vertrauten Geräuschs, das zudem noch monoton ist wie ein langes Om tibetanischer Gebete und Gesänge in entlegenen Klöstern des Himalaya. Sie sind weg, als seien sie nicht vorhanden gewesen. Ich gehe weiter.

Kelte


– Aus „KaffeehausSkizzen“, 1998 –

Ewiger Traum eines ewig suchenden Menschen – die Frage “Wo stamme ich her“ – wird wohl niemals in mir zur Ruhe kommen. Einige Wurzeln meiner Herkunft weiß ich mittlerweile zu deuten und könnte sie auch mehrere hundert Jahre zurückverfolgen, bis kurz vor dem Dreißigjährigen Krieg, auf Dauer befriedigt es jedoch nicht ganz. Ich versuche, noch früher zurückgehen zu können, lange vor die sogenannte Zeitenwende, lange vor Einführung der lateinischen oder griechischen Schrift, die andererseits beredtes Zeugnis darüber geben könnte, woher ich komme. Ich bin kein Archäologe, der in unserer Gegend aufschlussreiche Funde tätigen könnte, so, wie es der reichhaltige und wertvolle Fund im Jahr 1954 gewesen ist, der Goldschatz einer keltischen Fürstin oder Königin – das Gold soll hier einmal beiseite gelassen werden, es nutzt sich nicht ab, die Gier nach ihm nutzt sich leider ebenso wenig ab, beweist dies wiederum seine Nutzlosigkeit. Was hatte diese keltische Fürstin von ihrem Goldschatz, ihre Gebeine konnten sich schwerlich an seinem – nur überirdischen – Glanz erfreuen. Nicht einmal ihre Träume blieben erhalten, sehnsüchtige Vorstellungen und sehr eigennützige Pläne, bestimmt hat sie sich profanste Sachen herbeigesehnt, einen zweiten Mann, vierundzwanzig makellose, schneeweiße Pferde oder sonst etwas Wertvolles, einer hohen Fürstin würdig, was es damals an Ungewöhnlichem gab – und auch in den alten Zeiten bereits sehr teuer gehandelt wurde. Sie lebte in der Umgebung des heutigen Reinheim, wenn man das Bliestal von dort aus überblickt und sich in diese Zeit von 500 bis 300 vor Christus zurückversetzten könnte, fiele einem unschwer auf, dass dieser kleine Landstrich geradezu prädestiniert ist für sich kreuzende große und kleine Handelswege mit einer darüber thronenden Festung oder burgähnlichen Anlage, die dieses Gebiet weiträumig beherrschen und kontrollieren könnte. Es scheint eine reiche Gegend und ein vermögendes Herrschergeschlecht gewesen zu sein, eine Art Zwischenschaltstelle der uralten Salzstrassen, denke ich mir – wie gesagt, es sind allesamt Vermutungen meinerseits, gepaart mit Tagträumereien über diese längst vergangenen und unbekannt gebliebenen Epochen. Zuweilen in Augenblikken des Tagträumens und sich Verlierens in ein geheimnisvolles Gedächtnis, in einen Platz, an dem ich mich treiben lassen kann wie ein Treibholz in einem breiten Fluss oder See, sehe ich mich als Kelten, der hierher gekommen ist, irgendwann vor zweitausenddreihundert Jahren und noch früher, aus den östlich gelegenen Gebieten des Keltenstammlandes, vielleicht aus Böhmen, dem alten Bojerheim – oder aus österreichischen Landstrichen, wer kann es genau sagen?! Pferde besaßen sie damals, mehrere Ponyarten, das ist erwiesen, obwohl einzig und allein in Gräbern höhergestellter Personen Überreste dieser Tiere aufgefunden wurden. Eines der vielen Privilegien der Reichen, ohne Zweifel. Also angenommen, ich hätte zwar ein Reitpferd, möglicherweise besäße ich aber kein Schwert, dessen Besitz und dadurch errungenes und nach Außen sichtbares Prestige sicherlich einem Adligen im heutigen Sinne nahegekommen wäre. Aber so trug ich ´nur´ einen dreieinhalb Meter langen Speer bei mir, vielleicht, falls ich sehr modern dachte und schlau dabei gewesen bin, hatte ich zusätzlich einen eingetauschten Bogen von den feindlichen Stämmen, die wir nach Art der Griechen Skythen nannten, die aber nur deshalb feindlich gesinnt waren, weil sie noch weiter aus dem unbekannten Osten kamen und in unregelmäßigen Abständen unsere Gebiete unsicher machten.

Damals besaß ich mehrere Pferde für den Krieg, es waren zwei Tiere, eine Rasse, die viel kleinwüchsiger war und nach heutiger Sicht etwa einem Islandpony gleichkäme. Aber davon abgesehen, ein Keltenkrieger, der etwas auf sich hielt, befand sich immer im Krieg. Die damaligen Menschen waren übrigens auch von kleinerem Wuchs als die heutigen Zeitgenossen. Sagen wir, ich war dagegen hochgewachsen, ein großgeratener keltischer Krieger, und die Krieger dieses Volkes kämpften noch zu dem ursprünglichen Zweck des Krieges, nämlich aus reiner Notwendigkeit, wir kannten keine Söldnerheere, zwar lernten wir schnell und nachhaltig, aber belassen wir es in der Sichtweise der Zeit um 300 vor Christus – da es hier noch wildes, unberührtes Land in Hülle und Fülle und freie Menschen gegeben haben soll. Aber die Hügel, die sanft zur Blies hinabfallen sollen sich dem Betrachter wie aus jener alten Zeit darbieten: bewaldet bis auf wenige kahle Kuppen, hier und da hatten die nicht sehr zahlreichen Bewohner Lichtungen geschlagen und Siedlungen in der Ebene angelegt, die weit verstreut lagen. In vorkeltischen Zeiten scheint jeder Ort mit den umliegenden verfeindet gewesen zu sein. Aber als Kelte habe ich mir nie viele Gedanken um die nichtkeltischen Völker gemacht, wenn wir uns nicht mit ihnen verbündeten. Seht, ich komme nun geritten auf meinem kleinwüchsigen, dürren Pony, sein Schwanz ist hochgebunden, aus mystischen Gründen – einen Helm hatte ich mir noch nicht geschaffen, oder, was leichter gewesen wäre, im Kampf erbeutet, ich ritt barhäuptig meiner Wege, die mir jederzeit Gefahren liefern konnten, trug lange dunkelblonde Haare – ein untrügliches Zeichen des freien, ungebundenen Mannkriegers – und, man höre und staune, keinen Schnurrbart! Wie alt mag ich damals gewesen sein, dreissig Jahre vielleicht, für damalige Verhältnisse bereits ein fortgeschrittenes Alter, womöglich hatte ich auf einem der Höhenzüge oder weiter nördlich des Bliestals einen kärglichen Hof mit ein paar Sklaven, zwei Ehefrauen und ein paar Kindern – ich wollte, dass mich die Leute als etwas Besonderes ansahen, das liegt wohl an der eitlen menschlichen Natur. Oder irre ich mich!?

Ich komme geritten, vielleicht auf der Suche nach entlaufenen Tieren des Hofes oder auf der Jagd nach einem Wolf, dem ich den Pelz nehmen könnte, oder, was ganz entzückend wäre, einem der Ureinwohner dieser Länder zu begegnen, Ureinwohner, die sich hier noch herumtreiben sollen, erst vor kurzem erfuhr ich, sollen zwei fremde Gestalten, ganz in Bärenpelze gehüllt, mit Lederschilden und Speeren ausgerüstet, unten in der Nähe des Flusses gesichtet worden sein – wenn ich ein paar von ihnen aufspüren könnte, ich würde sie kurzerhand mit meiner Lanze töten und schlüge ihnen die Köpfe ab zum Zeichen meiner Heldentat – und als Zierde für mein Pony. Dieser Brauch ist für mein Volk noch recht neu, er soll aus den ferngelegenen Ostländern zu uns gekommen sein, so hörte ich es von meinem Vater.

Aber wenn ich meine Gedanken und mein Pony nun weiter vorantreiben soll, so ist es an diesem Morgen ein lauer Frühlingstag, da sollte mir nicht der Sinn nach blutrünstigen Taten stehen, falls ich damals schon ähnlich wie heute gedacht haben sollte. Mein Pferd schreckt wegen irgendwas aus seinem langsamen zottelnden Trott auf – sofort spüre ich, dass etwas nicht in Ordnung ist. Ich kenne keine Furcht oder Schrecken vor den Menschen, aber umso mehr vor den geheimnisumwitterten Kräften der Natur, ihren allgegenwärtigen Geistern und mächtigen Göttern, stets trage ich zwei lederne Armbänder als Amulette bei mir, eins für die weiblichen, eins für die männlichen Schutzgötter, so dass mir nichts Schlechtes zustoßen soll, wenn nicht …… Ja. Was? Immer ist eine kleine Unsicherheit dabei, die nicht vorhersehbar ist. Auch in diesem Augenblick nicht. Es droht mir echte Gefahr. Nur weiß ich nicht, von wem oder woher. Ich zügele mein witterndes Pferd, rede mit leiser Stimme auf es ein, es solle stillhalten, und ich lausche. Einen Bären wittere ich, der vor einem halben Tag hier vorbeigekommen sein muss, aber einer gegenwärtig drohenden Gefahr kann ich wohl nicht aus dem Weg gehen, denn es ist ein Mensch, der mir auflauert, ich rieche es nicht, also kann es sich nur um menschliche Feinde handeln, mein Pferd bleibt von ganz allein stehen, unruhig schnaubend, ich befinde mich auf einer Lichtung, sie ist weiträumig in diesem schütteren Waldgrund und bin ungeschützt feindseligen Blicken ausgeliefert, also steige ich ab von meinem Gaul, er soll mich mit seinem Körper zumindest nach einer Seite schützen – nach Altväter Sitte. In der Luft oder im Geäst der Bäume regt sich kein Vogel, kein Flügelschlag, alles scheint wie erstarrt, und ich lausche unbeweglich, ebenfalls beinahe zu Stein geworden. Meine Angst vor vermeintlichen bösen Geistern ist gewichen, ich bin bereit zum Kampf, selbst wenn es viele von diesen halbverhungerten Übriggebliebenen dieses alten Volkes sein mochten, vor ihnen fürchte ich mich keinesfalls – sie besitzen nicht einmal Pferde und bearbeiten mit dem Hakenpflug den Boden. Bogen und Pfeil verwenden sie selten, weiter oben im Norden, also, was konnte mir Schlimmes zustoßen.

Wieder besteige ich mein Reittier, nachdem ich es an einem kleinen Bach habe saufen lassen. Vorsichtig reite ich weiter, mir immerzu der lauernden Gefahr gewiss, aber heute will ich nicht kämpfen, nicht an einem Tag wie diesem, er ist zu wertvoll und schön nach dem langen Winter. Nur besaß ich dieses Bewusstsein für solcherart zarte Empfindungen angesichts einer aus langem Winterschlaf erwachenden Landschaft nicht – zu meiner Zeit gab es dafür keinen Platz im Denken der Menschen – von wegen romantische Gefühle im Frühjahr. Pah! Man paarte sich im Winter, wenn die Gewässer zugefroren waren bis auf den Grund, Frauen bekamen im Sommer ihre Kinder, was nachteilig war, denn die Ernten mussten um diese Zeit eingebracht werden. Aber es gab die Sklaven, die Allestuer, wie sie von uns genannt wurden, man konnte alles mit ihnen anstellen, sie töten, als Opfer für die Göttin der Fruchtbarkeit unserer Felder weggeben an die gierigen Priester. Ich ließ sie am Leben, ich verkaufte sie manchmal, wenn es an der Zeit war, an die Händler, die aus dem Süden zu uns kamen, gegen Pferde, Bernstein, Bronze und Waffen – ein paar der jungen Mädchen behielt ich zurück, sie schienen mir zu kostbar, obschon sie mir viele Güter eingebracht hätten – es war im großen und ganzen ein recht angenehmes Leben, wenn man wie ich ein Krieger war. Wir führten oft Krieg, aus Anlässen, die den modernen Menschen unverständlich bleiben, wegen einer Magd, die geraubt wurde, einer Kuh, einem Pferd.

Oh, nun durchblitzen doch schöne Gedanken meinen Kopf, alle Vorsicht sich selbst überlassend sage ich mir immer wieder, dass mir nichts Böses geschehen kann. Außerdem entsage ich keinesfalls jenem Mysterium, das Leben heizt, und hätte es nicht an jedem Tag meines Daseins genügt zu sagen, “nun reicht es, es ist genug”, und es wäre gut gewesen zu den Göttern zu kommen? Wie bekannt ist, sind Götter mir nicht fern, es gab sie überall und zu jeder Zeit, und überall und zu jeder Zeit musste ich darauf gefasst sein, Zeichen, Spuren ihrer Gegenwart zu entdecken, es musste zu ihrer Besänftigung oder Beeinflussung viel Fleisch geopfert werden, manchmal auch Menschen, aber dies seltener, nur, wenn es um entscheidende Schlachten ging – weit draußen im Urland, das nicht unserem Stamm gehörte, sondern einem anderen mit der gleichen Sprache, denselben Gewohnheiten und Umgangsformen. Dieses Land hatten meine Ahnen bereits einhundertsiebzig Jahre vor meiner Geburt verlassen und sind immer weiter nach Westen in dieses Tal gezogen. Soviel ich an Geschichten über meine Ahnen besaß, eines zeigte sich in ihnen immer wieder: meine Vorväter hatten auch gekämpft. Meine Väter starben immer zu früh, der eine getötet im Kampf mit diesen Eingeborenen, und dessen Vater wiederum wurde von einer freigelassenen Sklavin vergiftet. Er hatte sich in sie verliebt, ihr die Freiheit geschenkt und wollte sie zur Frau nehmen, nachdem er das Dorf, aus dem sie stammte, angezündet und die Bewohner erschlagen hatte.

Hier wird der Wald allmählich lichter, ich sehe bereits den Saum seines Endes, eine Wiese breitet sich bald vor mir aus, sie ist halb Sumpf, halb Grasland, zieht sich hinab in sanften Wellen und kleinen Erhebungen, die kaum auffallen, bis an den großen Fluss Blesa, der das Tal in zwei ungleiche Teile zerschneidet. Mein Pony ist den Sumpf nicht gewohnt, es stutzt und hält in seinem Trott inne, es wittert, jeden Schritt vorwärts abschätzend und scheinbar planend, ich lasse es gewähren, hier kenne ich mich aus, in den Sümpfen des Ostens bin ich aufgewachsen, an einem unübersehbaren reißenden Strom, der nach Südosten fließt, die Länder tischeben sich um ihn ausbreiten und nichts das Auge am Schauen hindert. Einst kamen wir hierher, hatten das Land in Besitz genommen, weil wir stärker als das andere Volk waren, die schwarzhaarigen Rundkopfgestalten, die, die-ohne-Pferde-sind genannt, hatten uns ausweichen müssen oder sie wurden vertrieben und getötet. Ihre alten Götter gab es hier und da noch. Die fürchtete ich nicht, sie gehörten nicht zu unseren Göttern, wir ließen sie, wo sie waren – in den Sümpfen. Die überlebenden Rundköpfe belästigten uns nach wie vor, zwar waren sie zahlenmäßig Wenige – aber sie hatten uns Rache geschworen.

Weiter tappt mein Pferdchen durch seichtes Wasser, durch Pfützen und an Grasbüscheln herum, ich rede mit ihm, es soll sich durch meine vertraute Stimme beruhigen und freuen.

Dann steckt plötzlich ein Pfeil in mir, genauer gesagt in meiner linken Hüfte, ein primitives Gebilde aus Ried, mit einer großen scharfen Steinspitze, die ich im Fleisch spüre, sein Schütze hat mich vortrefflich gefunden. Schwach nur spüre ich einen Schmerz – auf einen scharfen Pfiff hin galoppiert mein Pferd los – ich sehe, wie ich Abstand gewinne, mein unbekannt gebliebener Feind ist offenbar unberitten, er bekommt mich nicht zu fassen, trotzdem sehe ich aus den Augenwinkeln Gestalten aus den Büschen des Waldrandes hervorstürzen, sie schreien und brüllen wie toll, sie rennen mir ins seichte Wasser nach, doch mein Pferd ist schneller als sie. Nicht schnell genug – noch ein Pfeil trifft mich in die rechte Schulter, und ich stürze von dem Pferd. Hart falle ich dabei auf die Hüftwunde, der Schaft bohrt sich dabei noch tiefer in meine Seite, bei dem Aufprall schreie ich auf vor Schmerzen. Ich sehe mein Pferd in Reichweite stehen bleiben, es wurde gut von mir abgerichtet, es kommt jedoch nicht näher, obwohl ich nach ihm rufe. Oder meine ich nur, zu rufen? Die Stimme versagt mir tatsächlich. Und aus den nahen Büschen nähern sich mir die Feinde, vier Läufer erkenne ich zuerst. Sie kommen schnell näher, heulen und kreischen wild durcheinander, sie sehen mich schon als Beute. Morgen wird mein zerschundener Körper an einem Baumstamm in ihren Verstecken baumeln – wo bleibt mein Pferd? Tatsächlich, es trabt furchtlos heran, hoch aufspritzend das Wasser unter seinen Hufen, mein tapferes Tier, es stellt sich so vor mich, dass ich mich leichter an dem Sattel hochziehen kann, aber aufsitzen kann ich nicht. Dann bricht es neben mir zusammen, so plötzlich, dass ich mitgerissen werden – es ist von einer Lanze getroffen worden. Und nun kommen sie von allen Seiten. Das kann ich jedoch nicht mehr denken. Sie erreichen mich, ich kann mich kaum wehren, meine Lanze habe ich verloren, von einem Streitaxthieb, deren Schneide ich noch kurz und gleißend aufblitzen sehe, werde ich am Kopf getroffen und taumele im gleichen Augenblick in das Dunkel, aus dem noch nie einer zurückkehrte.

Mein Volk hat sich das Sterben und den Tod von alters her dem irdischen Leben ähnlich vorgestellt, zu meiner Verblüffung empfängt mich kein Gott des Reiches der toten Krieger, von oben herab, als wäre ich ein Vogel im Flug, vermag ich zu sehen, wie mich meine eigenen Leute zusammen mit meinem Lieblingspferd, das mit mir gestorben ist, unweit der Stelle begraben, wo man mich erschlug. Gegen den Ort hatte ich nichts einzuwenden, eine schöne Stelle auf einer sanft ansteigenden Bodenerhebung, wo kein Schmelzwasser hingelangen konnte, und mein Kopf schaute nach uralter Sitte in die Himmelsrichtung, aus der mein Volk einst kam und wohin wir nach dem Tod wieder gehen. Mein Volk glaubte an Kriegs-, Bauern- und Fruchtbarkeitsgötter, die uns in ihrer Welt aufnahmen für alle Zeiten. Ich wurde gründlich enttäuscht, unsere Priester haben Falsches berichtet – es ist erbärmlich kalt und finster, ein Oben und Unten ist nicht zu erkennen, mein Pferd sah ich davoneilen ins Nichts, meine Frauen warfen mir noch bei meinem Begräbnis vor, ich hätte sie im Stich gelassen, und meine Kinder weinten nicht um meinetwillen, sondern um die Stute, auf der sie so gerne geritten waren, manchmal schnitten sie Schwanz- und Mähnenhaare ab, für die Sehnen ihrer Spielzeugbögen, mit denen sie nach kleinen Vögeln schossen. Heutigentags, an dem meine Knochen fein säuberlich in einem Museum zu besichtigen sind, meine Überreste registriert wurden, mein ungefähres Alter bestimmt worden ist, obwohl ich den Wissenschaftlern genaueste Auskunft hätte geben können: bei meinem Tod zählte ich zweiunddreißig Winter – leider ist meine Stimme für Lebende unhörbar. Zu meiner Befriedigung erfuhr ich den Namen jenes alten Volkes, dessen Krieger mich erschlugen: Urnenfelderleute heißen sie, und sie verbrannten ihre Toten.

Mich begrub meine Sippe nach unseren Gebräuchen, mit meinem geliebten Pferd, der Lanze und dem Bogen, und so fand man mich auch in viel späteren Zeitaltern, die auf meines folgten.

Und worauf ich besonders stolz bin: meine Grabstelle wurde zwar zerstört und zu einer Strasse umgeändert, das Grab verschwand völlig, aber die moderne Strasse, unter der meine Begräbnisstätte verschwand, erhielt einen passenden, guten Namen: Am Keltengrab. Ist dies etwa kein Grund, stolz zu sein?

Jack Kerouac – Verzeihung ich verbrenne


Aus „KaffeehausSkizzen, 1998“

Sie sind wieder im Kommen, die Fünfziger – wie jede Mode, alles wird nachgeahmt, was irgendwie nach dem Nierentischzeitalter ausschaut, die Musik, der alte klassische Rock´n´Roll, neuerdings auch wieder der Jazz, mit den epochalen Plattencovern in mondänem Schwarzweiß, den typischen Frisuren und Kleidern. Alles mal dagewesen, alles schon gehabt, oder wie Jack Kerouac schrieb: Keine Generation ist neu. Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Alles ist verblendet.

Nehmen wir zum Beispiel Jack Kerouac, ein Amerikaner mit französisch-kanadischen Vorfahren, der über zwanzig Romane und Gedichtbücher geschrieben hat, einer der Begründer der sogenannten BeatGeneration, welche ein lockerer Zusammenschluss amerikanischer Literaten war, die ihre kurze, aber desto intensivere Hoch-Zeit ungefähr von 1957 bis 1961 erlebten, die aber nichts gemein hat mit der BeatMusic der frühen Sechziger Jahre, dieses Wort soll eine Art von Lebensgefühl ausdrücken, es hat auch nichts mit beaten – geschlagen – zu tun, sondern, so Kerouac, im Sinn von beatific, von Glückselig, Glückselig Zerrissen Berauscht. Kerouac wurde 1922 in Lowell/Massachusetts geboren, besuchte die Columbia University und diente während des Zweiten Weltkriegs bei der Handelsmarine. “Später trampte er jahrelang als Gelegenheitsarbeiter kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten und Mexico”, so die lapidare Feststellung des Rowohlt Verlages, der seine Bücher in Deutschland veröffentlichte. Dieses “—– trampte er jahrelang —–” umfaßt immerhin über zwanzig Jahre seines wilden, unsteten Lebens. Über seine verschiedenen Jobs in jenen Jahren sagt er: “Im einzelnen war ich: Schiffsjunge, Tankwart, Decksmann, Sportreporter bei der Zeitung (Lowell Sun), Bremser bei der Eisenbahn, Verfasser von Drehbuchsynopsen für die Twentieth Century Fox in New York, Eisverkäufer, Bahnhofsarbeiter, Gepäckträger, Baumwollpflücker, Möbelpackergehilfe, Blechverarbeitungslehrling beim Bau des Pentagon 1942, Brandwache im Forstdienst (1956), Bauarbeiter (1941).” In den Jahren 1946 – 1948 schrieb er seinen ersten Roman, sehr stark noch von Thomas Wolfe geprägt, The Town and the City, er erschien 1950. Erst später fand er seinen ureigenen Stil, seine “spontane Prosa”, wie er sie nannte. “The Subterraneans” schrieb er in drei Nächten, “On the Road” in drei Wochen.

Als Zweiundzwanzigjähriger traf er auf einen anderen, später weltberühmten Dichter der Beats, William Burroughs, ein ungleiches Paar, Kerouac stammte aus einer kleinbürgerlichen, proletarischen, Burroughs hingegen aus besten Familienverhältnissen, ein dreißigjähriger Harvard-Absolvent, der den abenteuerlichen Vorsatz hatte, die Morphiumsucht zu erforschen – an sich selbst. Träuf auch Allen Ginsberg, einen jüdischen Intellektuellen. Ohne ihre Freundschaft und gegenseitige Inspiration gäbe es die Beat Generation nicht. In dieser Zeit lernt und absorbiert Kerouac beachtlich, er nimmt alles auf, was er von Menschen und deren Erfahrungen und durch eigene erhält, er setzt diese gemachten Eindrücke in eine besondere Sprache und Erzählweise um, daraus resultieren Jahre später seine besten Romane: die Stadt New York, ihre Hektik in den Strassen, das Zwielicht der Hinterhöfe, Slums, Kaschemmen, Bars, Puffs, die Subkultur der Ganoven, Süchtigen, Penner, das Leben der Ausgeflippten, aber auch der Jazz der Großstädte, Charlie Parker, Miles Davis – Be Bop, der damals überall in den Cafes gespielt wird, und von deren ekstatischen, hechelnden, schnellen Vortragssstil Kerouac am meisten fasziniert ist, dieser Stil geht in seiner Prosa ein. Er schreibt, wie Charlie Parker ein Saxophonsolo spielte, atemlos bis zum scheinbaren Exzess. Als Kerouac an The Town and the City schrieb, traf er auf Neal Cassidy, auch ein späterer wilder Vertreter der Beats, und diese Begegnung mit diesem Mann, der leider nur wenig geschrieben hat, veränderte einiges in ihm. Cassidy stellte den Action-Typ der Beats dar, sein Lebensstil ging auf ihn über. Und Kerouac fand durch ihn sein großes Thema, die Strasse. Allen Ginsberg meinte über seine Schriften: Jack ist ernsthaft bemüht um den Rhythmus seiner Sätze, er genießt das, weil er Jazz, Bach, Buddhismus oder den Rhythmus bei Shakespeare genießt ……. all das fügt sich genau in den halbjahrhundertjährigen Kampf um die Herausarbeitung einer spezifisch amerikanischen Prosodie, die zu unserer eigenen Sprechweise und unserem eigenen Denkrhythmus passt ……. in der Gestaltung der zeitgenössischen amerikanischen Szene in Prosa ist er der Meister der Erneuerung. Kerouac schreibt über Cassidy: “ er ist er phantastischste Parkwächter der Welt und kann einen Wagen mit siebzig Sachen im Rückwärtsgang in eine enge Lücke fahren und hart an der Wand anhalten, herausspringen, zwischen den Kotflügeln durchlaufen, in einen anderen Wagen springen, ihn mit achtzig Kilometer pro Stunde in einem Engpass wenden, schnell in die Lücke hinein, ratsch! den Wagen mit der Handbremse anhalten, dass man ihn sich aufbäumen sieht, während Dean herausgesaust kommt …..” und an einer anderen Stelle: ”Und seine `Kriminalität` schmollte und grinste nicht, sie war ein wilder yea-sagender überschwenglicher Ausbruch amerikanischer Freude: sie war aus dem Westen, der Westwind, eine Ode aus den Prärien, etwas Neues, lang prophezeit, lang im Kommen (er stahl Autos nur zu Vergnügungsfahrten). Außerdem gefielen sich alle meine New Yorker Freunde in der negativen und beklemmenden Haltung, die Gesellschaftsordnung herunterzumachen, und das mit ihren müden formalen oder politischen oder psychoanalytischen Argumenten zu begründen, während Dean nur in der Gesellschaft herumtobte, gierig nach Brot und Liebe” (aus dem Roman On the Road). Bemerkt sei noch, dass Dean Moriarty sein Freund Neal Cassidys ist. Den Roman UNTERWEGS (On the Road) las ich vor über zehn Jahren. Ich las ihn, glaube ich, in einer einzigen Nacht, ein paar Tage später noch einmal. Die Geschwindigkeit seiner Prosa hatte mich gefangen – aber vom Inhalt behielt ich wenig. Also las ich zweimal innerhalb kurzer Zeit. Ich wußte nicht, was faszinierender für mich war, die einzelnen Personen der Handlung oder der Erzähler selbst, der dies miterlebt und durchlebt hatte. Leider machte mich die Lektüre nervös, damals wäre ich am liebsten genauso aufgebrochen, ich sah mich schon an irgendeiner Hausecke stehen, mit zwanzig Mark in der Tasche und in Gedanken bereits am Ende der Welt. Vor allem aber machte es mich erst einmal neugierig auf die anderen Romane Kerouac, die ich mir auch im Laufe der Zeit zulegte, sofern sie in deutscher Sprache erhältlich waren, erst 1984 erschien auf deutsch THE TOWN AND THE CITY, eine lange Geschichte über den raschen Zerfall einer Familie in einer amerikanischen Kleinstadt an der Ostküste. ON THE ROAD ist sein Meisterwerk. Die Helden und Personen des Romans, die alle um Jacks Hauptperson kreisen und mit ihm unterwegs sind, so denken wie der , befinden sich unaufhörlich auf der Suche nach einem anderen, besseren Leben, nach einem anderen, wilderen, freieren Amerika. Viel ist von Mexico City die Rede, ein oder zweimal landen sie dort, mehr oder weniger abgebrannt, aus Texas kommend, aber es hält sie nicht lange dort, Kerouacs Gefährten reisen meist ruhelos und atemlos weiter, nach San Francisco und wieder zurück an die Ostküste, wobei die Stadt Denver eine Art Angelpunkt für sie darstellt, eine Drehachse des unsteten Amerika. Ein anderes Buch das an On the Road erinnert, lautet BeBop Bars und Weißes Pulver (The Subterraneans, 1958), das 1979 in der Bundesrepublik Deutschland erschien. Es erzählt die kurze heftige, aber zum Scheitern verurteilte Liebe eines jungen Autors zu einer jungen Schwarzen, ihr Umfeld sind Bars, die Bungalows von San Francisco, andere Gestalten des Buches sind Jazzmusiker, Maler, Schriftsteller. Der Roman reicht in seiner Wildheit und Atemlosigkeit, in seiner ungewöhnlichen Wortgewalt an On the Road heran. Er ist in manchen Passagen ein echter, musikalischer Jazztrip. Man sollte sich dazu die alten Platten von Miles Davis, Carlie Parker oder Dizzy Gillespie anhören, um eine Ahnung für diese aufregende Zeit, aber auch für das Sprach- und Schreibtalent Jack Kerouacs zu bekommen. Nicht weniger faszinierte mich Book of Dreams, ein Traumtagebuch, das im Mai 1978 im Maro-Verlag erschien. Es sind gesammelte Träume, die er notierte, als er an den Romanen On the Road und The Subterreneans schrieb – und wie Kerouac im Vorwort schreibt, “alles wurde ganz spontan aufgeschrieben, ohne Pause, wie eben Träume ablaufen; manchmal, bevor ich noch richtig wach war. Die Personen, über die ich in meinen Büchern geschrieben hab, tauchen in diesen Träume wieder auf, in neuen, fremdartigen Traumsituationen (…) und sie erzählen die gleiche Geschichte weiter, über die ich immer schreibe. ”Tatsächlich ist es lediglich eine Träumesammlung, ein Panoptikum ohne Anfang oder Ende, trotzdem kann ich heute noch, wenn ich darin blättere, innehalten und mich irgendwo festlesen. Die Tagebücher, aus denen dieses Buch besteht, erschienen in den USA 1961 und sind ein Schlüssel zum Verständnis seiner Romane. Kann heute ein solch Ruheloser, ein solch Suchender, wie Kerouac es war, Burroughs und Ginsberg es noch immer sind, einem Dreißigjährigen oder Jüngeren noch etwas vermitteln außer der Ehrfurcht vor seiner Sprachgewalt und deren Rhythmus, Amerika-Mythos, Jazzgefühl und freien, poetischen Assoziation? Liegen die Fünfziger Jahre nicht schon zu lange zurück? >Jedes Ding hat seine Zeit.< Es soll nicht behauptet werden, dass diese amerikanische Dichtergeneration Geschichte machte oder mit Geschichte einmal zu tun haben wird, es gäbe genügend über die Kehrseite einer Medaille, die sie sich selber schufen, zu berichten – aber eines nimmt ihnen so schnell niemand ab: sie haben verdammt gut und verdammt frei gelebt, ein ewiger Traum von jungen Menschen, die auf der Suche nach sich selbst und nach der Welt anderer in einem sich wandelnden Amerika sind. Und dass Kerouac, Burroughs, Ginsberg und Casssidy und andere ihren Beitrag leisteten, indem sie ihr Leben und die Visionen, Ängste, Nöte und Freuden in Worte fassten und zu Papier brachten, dann ist es wert, so gelebt zu haben und noch zu leben.

Neal Cassidy lebte es ihnen allen vor, er war tatsächlich so, in allen Episoden seines kurzen, ruhelosen Lebens. Wie die Legende berichtet (siehe On the Road) soll er 1926 in einem Automobil in Salt Lake City geboren sein, leider hat er nicht viel Schriftliches hinterlassen, seine Autobiographie, The First Third (gemeint ist das erste Drittel seines Lebens) ist Fragment geblieben. 1982 erschienen im Fischer Taschenbuchverlag seine gesammelten Schriften, die Autobiographie, Selbstzeugnisse und Briefe an Jack Kerouac enthalten. Man merkt auch in seinen privatesten Briefen an Kerouac, dass er aus purer Lebensfreude seine Ruhelosigkeit und Abenteuerlust suchte – und fand. “Ach, wer je in Amerika gelebt und gelitten hat, der weiß, was ich meine! Wer jemals auf Kohlenwagen aus Cleveland hinausgefahren ist oder in Washington D. C. auf Briefkästen gestarrt hat, weiß es! Wer in Seattle wieder Haare gelassen hat oder in Montana! Oder in Denver gestorben ist! Oder in Chicago geweint oder in Newark gesagt hat: `Verzeihung, ich verbrenne.`” Mit dem Verlangen, dem schweigenden Stolz, mit dem Wort: Wir wollen keine Sicherheit! lebten sie – es sollte keine Absage für die Gesellschaft sein, aus der sie kamen, es war eine Abwendung von übernommenen Richtlinien und Normen, die diese Gesellschaft, unsere Gesellschaft, sich aufgezwungen hat. Es liegt kein Protest oder Sektierertum in den Gedanken der Beats, sie waren alle für sich, unabhängig voneinander, auf ähnliche Weise zu dieser Lebenseinstellung gekommen, wobei Kerouac und sein Freund Neal Cassidy es waren, die den Funken übersprühen ließen – es muss eine ungeheure Dynamik in dieser Gruppe geherrscht haben, wie jeder von jedem inspiriert und vorwärtsgetrieben wurde. Einige Wenige, darunter Ginsberg und Burroughs, schafften den Sprung in die Sechziger Jahre, Ginsberg wurde zeitweilig zu einer Art Guru der amerikanischen Protestbewegung, er mobilisierte alles und jeden, der aus New York kam und etwas zu sagen hatte zu Vietnamkrieg und Rassenproblemen des Südens. Kerouac schaffte es nicht. Als er mit On The Road schlagartig berühmt wurde, war es für ihn zu spät. Nicht, dass seine große Zeit als Schriftsteller nun vorbei gewesen wäre, er hatte einfach resigniert – im Lauf der Sechziger fiel ihm zum Vietnamkrieg nichts ein. Mit seiner Autobiographie “Die Verblendung des Duluoz” (Duluoz ist Kerouac) gelang ihm 1967 noch einmal ein Meisterwerk. Den Tod des Gefährten Neal Cassidy, der im Februar 1968 in Mexico tot an einem Eisenbahngleis gefunden wurde, hat er nie verwunden. Im Oktober 1969 starb er und wurde in Lowell begraben. “Doch ich war noch immer ein Opfer, ich ging mit Ma nach Ozone Park zurück, sie beschäftigte sich mit dem Frühjahrsputz (der alte Herr ist fort, putze das Haus, treibe die keltischen Geister aus), und ich setzte mich hin und schrieb, in Einsamkeit, in Schmerzen, schrieb Choräle und Gebete, selbst im Morgengrauen, und dachte: `Wenn dieses Buch fertig ist, das Summe und Substanz und Plunder all dessen sein wird, was ich in diesem gottverdammten Leben durchgemacht habe, dann werde ich erlöst sein.`” (Die Verblendung des Duluoz)1

Erste Tage Im Alg II-Reservat


mein zweites leben mit hartz iv – & eine odyssee setzt ein, die sich gewaschen hat. dienstagmorgen, 2. november, warten im arbeitsamt auf eine bescheinigung, warten bei der stadtverwaltung auf das ausfuellen dieser bescheinigung, warten in der ARGE, dass ich drankomme. dann komme ich dran, es ist mittlerweile nach elf uhr, seit acht uhr bin ich hier in der stadt. die junge empfangsdame spricht sehr schnell, als haette sie es eilig, & sie ist nett & hoeflich.

 um dreizehn uhr komme ich nach hause – im haus wartet jemand auf mich, eine besucherin: die kleine schwester der melancholie, die wiederholung. sie laechelt dabei, als sie sagt: „habe ich recht gehabt, als ich sagte, du kaemst erst nach 12 uhr!?“
sie ist ein bisschen rechthaberisch, muesst ihr wissen.
die stadtverwalter kuessen mir selbstverstaendlich nicht den arsch, als ich dort vorspreche für eine bescheinigung, sie ignorieren mich beinahe zu grunde. es waere mir nur recht, & es ist nicht das erste mal.